Jeden Samstag Tanz bei Maus

AUFBEWAHRUNG IN DER VERABSCHIEDUNG Ralf Rothmanns Ruhrgebietsroman »Milch und Kohle«

Es konnte lange so scheinen, als sei mit dem Ende der Werkkreis-Literatur auch das wirkliche, das echte Ruhrgebiet literarisch von uns gegangen. Seit sich jedoch mit Abschluß der IBA das Revier als Vexierbild zeigt, als Überblendungen post industrieller Arbeits- und Wohnlandschaft mit einer Museums- und Parklandschaft der Montanindustrie, kann man auch in der Literatur über die Region, die die einzig wahre Bundesrepublik alter Bauart war, eine Doppelbelichtung erkennen. Das eine Bild sah man schon. Das stammt aus den Kriminalromanen über eine immer lustvoller als trostlos geschilderte Gegenwart. Das andere führt zurück in jene sechziger und siebziger Jahre, in der man zeitgenössisch die Wahl zwischen Programmliteratur von Linkshäkelnden und Kassenliteratur von Rechtsgewirkten hatte - also zwischen Maloche unter Tage in Studienrats-Erfindungen oder heißen Nächten mit italienischen Gastarbeitern, wie zum Beispiel in Heinz Konsaliks Die schöne Ärztin. Längst vergessen. Die Jugend aber, mitgeschleppt, die Sehnsucht nach der Zeit der Unerfülltheiten bleibt. Und sie wird offenbar desto stärker, je mehr der Erwachsene erfahren hat, dass die Nichterfüllung der Sehnsüchte von damals uns am gründlichsten bindet - eben als Sehnsucht nach dem Nichterfüllten.

Wie die musealisierten Gehäuse der Schwerindustrie, so haben die literarischen Erinnerungen an jene Zeit die Aufgabe, die Odo Marquard als »Wiedervertrautmachen fremdgewordener Herkunftswelten« bezeichnet hat. Über diese Zeit, als im Ruhrgebiet die alte Bundesrepublik bei sich zu Hause war, zwischen Leistungsgenuss und Freizeitanstrengung, in den Jahren industrieller Erkaltung und aufheizender Popkultur, haben Ralf Rothmann, Michael Klaus und Wolfgang Welt geschrieben. Während aber der Sound von Klaus' Nordkurve oder Welts Peggy Sue den Suff, das Ohrenbrausen und die Blessuren von dazumal heroisch wiederaufleben lässt, erscheint der neue, nach den hochgelobten Stier und Wäldernacht dritte, Romanblick Rothmanns von heute auf das Ruhrgebiet von damals elegisch abgedämpft - wie durch eine Glasscheibe gesehen. Milch und Kohle übt sich in der vertrackten Kunst von Aufbewahrung in der Verabschiedung

Simon, der Erzähler, Autor mehrerer Bücher, kümmert sich um die Bestattung seiner Mutter. Und er erinnert sich. Auch im Erinnerten ist er meist nur von ferne dabei. Das legendäre Stones-Konzert in der Essener Grugahalle, bei dem die Ordnung ordentlich zu Bruch ging, sieht Simon sich während unendlicher Sonntagslangeweile in der Zeitung an. Ist er wirklich dabei, steht er, das »Sensibelchen«, das Schnaps so ekelhaft findet wie Erbsensuppe, gleichwohl daneben. Und wenn - dank ‚Rubber Soul' - das andere Geschlecht greifbar nahe scheint, dann scheitert es ausgerechnet an seinem begehrlichen Zittern.

Das hat einen besonderen Reiz, getragen vor allem durch eine Konstruktion, die Symbolträchtiges nicht scheut, es aber stets durch überzeugende Detailerinnerungen ausbalanciert. So bleibt der Roman gleich weit entfernt von einer sterilen Parabolik des Lebens ›schlechthin und als solches‹, wie von einer autobiografischen ›Echtheits‹-Literatur, deren Ideal es ist, wie das Wunderknäblein Benjamin Lebert formulierte, dass der Leser hinter jeden Satz ein Häkchen machen könne.

Dennoch wird das ›Jou, dat gabet!‹ und ›Ej, so waret‹ nicht ausbleiben. Radio Luxemburg, Francois Hardy und Roy Orbison hier, das um eine Zugfahrkarte gewickelte Wollgarn dort. Doch Rothmanns Roman geht weiter als nur in die Archive der Erinnerung zurück. Er schreibt die ewige Wiederholungsgeschichte der Sehnsüchte. Er schreibt sie aus der Perspektive eines Heranwachsenden auf sich, seinen Bruder Traska und seinen Freund Pavel. Vor allem auf die Mutter. Und dahinter auf den Vater. Der ist allermeist unter Tage oder verschwindet schon mal mit der Mutter im Schlafzimmer, nachdem man zugesehen hat, wie es im Aquarium Junge gab. Der Vater bringt Gino mit, den italienischen Arbeitskollegen. Mit ihm erhält der Speiseplan bis dahin ungeahnte Sinnesfreuden. Und als der Vater nach einem Strebbruch im Krankenhaus liegt, bietet Gino neue Hoffnungen für die Mutter und ihre verzweifelt suchende Sinnlichkeit.

Eingangs hatte der Sohn sie gefragt, was sie denn aus dem norddeutschen Kuhstall ins Ruhrgebiet gebracht habe: »Â›Hier hast du Schulden, rußige Wäsche und Staublunge, oder was?‹ ›Hier ist Stadt: Asphaltierte Straßen, nette Nachbarn, ein Fernseher und jeden Samstag Tanz bei Maus.‹« Nun tanzt sie mit Gino Twist, geht mit ihm ins Bett und will mit ihm in Italien Oliven ernten. Der Sohn dazu: »Da kannst du ja gleich den Melkschemel mitnehmen.«

»Deine Mutter hat Pfeffer unterm Hintern«, sagt sein Freund Pavel. »Gefällt mir.« Bruder Traska hingegen gefällt das gar nicht. Er rebelliert gegen die Eltern wie gegen sich selbst, ist aggressiv und bekommt epileptische Anfälle. So wird der Blick auf die Vergangenheit stereoskopisch, Langeweile und fatalistische Dreingabe, Wut und vergeblicher Ausbruch. Darin konturiert sich das Bild der Mutter, die dahinschmilzt, wenn man sie mit der Queen vergleicht, ein »verletztes Mädchen«, voll Lebensgier und der vagen Vorstellung, dass alles nur am »verdammten Geld« liege. Die am Ende sagt: »Da muß ich den Alten ja doch geliebt haben, wenn ich ihm so schnell hinterhersterb. Oder?« Indes ist das nicht alles und nicht das Ende. Jedenfalls nicht im Roman. Der endet, weitab in Japan, mit einer Pointe, von der nichts verraten sei außer dem Rat, den es dabei gibt: »Gerade! Halt dich gerade, Oller!«

Ralf Rothmann: Milch und Kohle. Roman, Suhrkamp-Verlag, Frankfurt am Main 2000, 211 S., 36,- DM

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