20. Jahrhundert Zum Jahresende noch einmal drei wichtige Wälzer: Philipp Bloms „Die zerrissenen Jahre“, Richard Overys „Der Bombenkrieg“ und Keith Lowes „Der wilde Kontinent“
In Griechenland ging der Zweite Weltkrieg direkt in den Griechische Bürgerkrieg über
Foto: Keystone/Getty Images
Der Gedenktsunami zum Jahr 1914 ist über uns hinweggerollt und hat, ohne unsere Weltsicht großartig zu zerstören, doch allerlei Brocken hinterlassen. Und nun folgt vor Weihnachten bereits eine neue Welle, auch sie schwemmt noch einmal Bücher heran, die sich mit den Weltkriegen, nun allerdings mit beiden, beschäftigen.
Im Jahr 1945 kamen mit der Niederlage der Achsenmächte keineswegs einfach Ordnung und Hoffnung zurück. In großen Teilen des Kontinents hörten Unruhe, Durcheinander und Folgelasten keineswegs auf. Im Gegenteil, Chaos blieb an der Tagesordnung, so lange, bis es in den Frontstellungen des Kalten Krieges in eine Art Latenz zurückgedrängt wurde. Der britische Historiker Keith Lowe ruft in einem breit angelegten, düsteren P
2;steren Panorama die Jahre zwischen 1943 und 1950 als nicht jene der Wiederordnung durch den Marshallplan, sondern als jene der Anarchie ins Gedächtnis. Rache, ethnische Säuberungen und Bürgerkrieg sind die drei apokalyptischen Reiter, deren wüste Spuren er in Der wilde Kontinent nachzeichnet.Der eliminatorische Rassismus, den das nazifizierte Deutschland über Europa gebracht hatte, war mit der Naziherrschaft nicht vorbei. Die Grenzen zwischen verständlicher Rache für angetanes Unrecht verflossen schnell in brutalen ethnischen Säuberungen. So wurden zum Beispiel in Polen nicht nur Deutsche und Ukrainer Opfer von Verfolgung und Massakern, weil deren Landsleute Polen gemordet hatten. Auch für Juden war Polen damals noch immer das gefährlichste Land Europas. Ähnlich fließend waren die Übergänge von sozialen und politischen Kämpfen zum schieren Bürgerkrieg.WiderstandsversucheDie politische Gewalt in Frankreich und Italien war eminent, die kommunistischen Parteien bürgerkriegsbereit. Die russische Unterjochung erzeugte und zerschlug Widerstandsversuche. In Rumänien zerstörten Kommunisten die Demokratie, wie in den baltischen Ländern der Widerstand gegen die Sowjetisierung brutal unterdrückt wurde. Griechenland verfiel in härtesten Bürgerkrieg. Das Bild, das sich heute wieder an den Rändern Russlands zu bieten beginnt, war damals drastisch in nahezu ganz Europa präsent.Alle Gegenwarten, scheint es, schreiben die Vergangenheit auf ihre Zustände hin um. Um sich gegen das scheinbar Unvermeidliche zu wappnen? Keith Lowe neigt zwar dazu, allzu einseitig die anarchische, chaotische, brutale Seite jener Jahre zu betonen, während sich zugleich doch andernorts Ordnung stabilisierte, wenngleich oft zu umstandslos die alte. Indes kann man aus seinem aufwühlenden Buch lernen, was uns für Verhalten wie Urteil zur Gegenwart vorsichtiger machen sollte: Opfer können zu Tätern werden. Und jene, die keine Täter waren, werden zu Opfern von zu Tätern gewordenen Opfern.Zündvorgang der späteren Katastrophe war der Erste Weltkrieg, vor allem die Folgen der Verträge von Versailles und Trianon. John Maynard Keynes, der wohl bedeutendste Ökonom des 20. Jahrhunderts, damals Mitglied der britischen Verhandlungskommission in Versailles, hat es schon 1919 prognostiziert. Versailles werde Europa zu einem größeren Desaster führen als der Krieg zuvor.In seiner Schrift Krieg und Frieden, gerade auf Deutsch neu erschienen, von Joachim Kalka übersetzt und von Dorothea Hauser ausgezeichnet kommentiert, rechnete Keynes 1919 ebenso scharfsinnig wie –züngig vor, dass das Diktum des englischen Premiers Lloyd George, die Deutschen wie ein Zitrone auszupressen, in einen Aberwitz führe: Nie und nimmer könne Deutschland das Reparationsziel erfüllen, zumal dann nicht, wenn man die eigenen Märkte vor deutschen Exporten schützen wollte. Es gehört ausführlich zitiert:„Wie ganz anders hätte Europas Zukunft aussehen können, hätten nur Lloyd George oder Präsident Wilson begriffen, dass […] die Gefahren der Zukunft nichts mit Grenzen und Souveränitätsrechten zu tun hatten, sondern mit Landwirtschaft, Kohle und Transportmöglichkeiten! […] Es ist offensichtlich, daß Deutschlands Fähigkeit, einen jährlichen Tribut an das Ausland zu zahlen, […] nicht unbeeinflußt blieb […] von der Abtretung von zehn Prozent seines Territoriums und seiner Bevölkerung, von einem Drittel der Kohle und drei Vierteln des Eisenerzes, vom Verlust von zwei Millionen Männern in der Blüte des Lebens, von der vierjährigen Aushungerung der Bevölkerung, von der Last großer Kriegsanleihen, von der Abwertung seiner Währung auf weniger als ein Siebtel des ursprünglichen Wertes […], von der Revolution im Land und dem Kommunismus an der Grenze und von all dem unermeßlichen Ruin von Kraft und Hoffnung in vier Jahren eines alles-verschlingenden Krieges und einer endgültigen Niederlage. […] Eine Politik, die in Deutschland eine ganze Generation zur Knechtschaft verurteilen möchte, die das Leben von Millionen von Menschen erniedrigt und einer ganzen Nation das Lebensglück nimmt, sollte uns widerlich und verabscheuungswürdig erscheinen - widerlich und verabscheuungswürdig selbst dann, wenn es eine mögliche Politik wäre, wenn sie uns reich machen würde, wenn sie nicht den Keim des Verfalls der europäischen Zivilisation aussäen würde.“Ethnopolitische KonflikteDoch nicht nur für die Deutschen entstanden aus den Gebietsabtrennungen ethnopolitische Konflikte, gerade auch die nach dem Trianon-Vertrag erheblichen Abtretungen Ungarns führten zu Unruheherden, die bis heute andauern. Österreich verlor seine Kohle- und Stahlreviere, seine Kornkammern und den Seezugang. Überhaupt ging man mit großer Unkenntnis und Selbstgefälligkeit über die komplexe Bevölkerungssituation Mittelosteuropas ebenso hinweg wie man die Unabhängigkeitsbestrebungen Irlands oder in der arabischen Welt, von anderen Weltteilen ganz zu schweigen, ignorierte. Wilson z. B., der im Namen der Menschenrechte herumpathetisiert hatte, sah in den aus dem Krieg heimkehrenden „Negern“ das Einfallstor des Kommunismus in den USA und verschärfte flugs die Bestimmungen zur Rassentrennung. Nirgendwo, außer in der Tschechoslowakei, bis sie von Hitler niedergemacht wurde, hielten sich die neuentstandenen Staaten als Demokratien. In Deutschland blieb man von allen politischen Seiten auf den „Schandvertrag“ fixiert, für dessen Zinstilgungen die Bundesrepublik bis 1980 noch 14 Milliarden DM gezahlt hatte. Erst Oktober 2010 ist offiziell die letzte Schuld beglichen worden. Die Hyperinflation der Jahre bis 1923 hatte zwar beim Abtrag geholfen, aber zum einen bei weitem nicht genug, zum anderen hinterließ sie ein durch und durch traumatisiertes Bürgertum. Diese Zeit wurde gerne von der internationalen Bohème als Tanz auf dem Vulkan glorifiziert, im Rückblick oft auf die gesamte Weimarer Republik ausgeweitet. Philip Blom, ein eloquenter Verwerter einschlägiger Forschungen, hat die Zeit zwischen 1918 und 1938 in seinem jüngsten Buch Die zerrissenen Jahre tituliert. Er liefert in gewisser Weise die – plastischen – Illustrationen der von Keynes vorhergesagten Folgen. Klassenkämpfe und ethnische Konflikte, Diktaturen des Kommunismus wie des Faschismus, Konflikte zwischen Japan und China, der Palästina-Dauerkonflikt, der massenhafte Bevölkerungsaustausch zwischen der Türkei und Griechenland.Dagegen wirkte dann das Deutsche Reich nach der Machtübergabe an die Nazis wie ein Hort plötzlicher Stabilität. Jedenfalls für diejenigen, die Juden, Kommunisten, Sozialisten und Gewerkschaften als Widersacher, Terror als probates Mittel ansahen. Das waren wahrlich nicht wenige – auch im Ausland.Im Band 19 des Gebhardt, dem renommiertesten Handbuch zur deutschen Geschichte, kann man das ebenso präzise wie abgewogen nachlesen, wie nämlich in den Nazijahren der Vorkriegszeit 1933 bis 1939 die Suggestion wiedergekehrter Normalität im Führerstaat der Volksgemeinschaft durch Wohnungsbau und – trotz permanenten Buttermangels – Lebensmittelversorgung, durch Konsumanreize und –versprechen von Volksgütern wie Volksempfänger, Volksfernseher, Volkswaschmaschine, Volkskühlschrank und obendrein Volkswagen – und, ja, Reichsautobahnen erfolgreich war, zugleich Kontrolle, Gewalt, Terror und Kriegsvorbereitungen als Ausweg aus den anders gar nicht auflösbaren, nazierzeugten gesellschaftlichen und politischen Konflikten eskalierten.Hartlaubs BeobachtungenDa ist es besonders beeindruckend, was die Tagebücher und Notizen Felix Hartlaubs aus den Jahren 1934 bis 1938 liefern. Mustergültig ediert, liefern die Aufzeichnungen des in den letzten Kriegstagen verschollenen Genialikers eindringliche Einblicke in die seltsame Atmosphäre aus Anomalie und Normalität, Mißtrauen und Erleichterung, Wachsamkeit und Alptraumhaftem – zentriert um die Erfahrungen eines frisch zum Studieren nach Berlin Gekommenen. Er nimmt die „moskowitische Fassade“ das Schlosses ebenso wahr, wie Unter den Linden: „Jüdische Faschisten aller Balkanstaaten, Türken, Polen, Skandinavier; selten Vertreter westlicher Nationen.“ Beobachtet in der Bibliothek, wie neben dem greisen jüdischen Platonforscher ein markiger SS-Mann Platz nimmt, aber nach einer halben Stunde zackiger Lektüre unter „Gedankenentzündung“ enteilt. Er setzt sich – mit der Devise: Nur nicht auffallen – unter die Uniformierten, alle „in ihren Masken festgefahren“, überhaupt „die jungen Menschen wie eingekeilt in ihre Individualität, trotzig-träge in ihr verharrend.“ Eine Atmosphäre aus latenter Zukunftsfurcht und unruhiger Normalitätsversicherung.In Hartlaubs Beobachtungen fehlen merkwürdig die Amerikaner, die doch damals nicht selten in Berlin anzutreffen waren, teils als kritische, nicht selten aber auch als faszinierte Beobachter. Denn auch der Weltsanitäter USA war ja wahrlich vor dem New Deal kein Hort der demokratischen Stabilität: der Ku-Klux-Klan mit mehreren Millionen Mitgliedern, Maschinengewehre gegen Bergarbeiter, Prohibition, Mafia und Korruption. Und überall, auch dort, die Furcht vor einem neuen Krieg, mal latent, mal akut, zumal als Krieg aus der Luft und mit Gas – erschreckende Hochrechnungen auf die Zukunft mit freilich schon zynischen Experimenten in der Gegenwart, die Engländer gegen rebellierende Inder, Spanien gegen die Rif-Kabylen, Italien in Abessinien. Da war die Legion Condor im Spanischen Bürgerkrieg nur noch ein weiterer Schritt der Eskalation. Immerhin, die apokalyptischen Visionen eines Gas-Luftkriegs sollten sich nicht bewahrheiten, dafür stand am Ende die Atombombe…Der BombenkriegRichard Overy hat, nach den vielen Büchern, die in den letzten Jahren dazu schon erschienen sind, speziell den Bombenkrieg sich noch einmal vorgenommen. Auf mehr als tausend Seiten entfaltet er noch einmal alle Facetten der politischen, technischen, strategischen und psychosozialen Seiten einem bewundernswert abgewogenen Durchgang, der diese Weise des Kriegs zugleich in einen Gesamtzusammenhang strategischer und politischer Entscheidungen einzubetten sucht. Während Jörg Friedrich in seiner alarmistischen Philippika noch die Zahl von annähernd 600 Tausend allein deutschen Opfern kolportierte, kommt Overy nüchterner auf ca. 350 Tausend, darunter auch Tausende Zwangsarbeiter und Kriegsgefangene. Der britische Luftwaffenchef freilich hatte 1942 gestrunzt, man könne in anderthalb Jahren annähernd eine Million Deutsche umbringen und nebenher 25 Millionen noch „enthausen“. Die Deutschen sprachen vom Coventrieren, die Engländer vom Essenisieren – gemeint war beidemale: Vorgeblich präzise Zerstörung von Industrieanlagen und Infrastrukturen, tatsächlich aber breiter Terror der Bevölkerung. Selbst als den Beteiligten dämmerte, daß sie ihre Ziele damit nicht erreichen würden, eskalierten sie: die Nazis machten mit Luftangriffen gegen England noch weiter, als ihre Illusionen einer Invasion dort längst verflogen waren, die Amerikaner (und mehr noch die Briten des berüchtigten Bomber-Harris) steigerten unentwegt die Angriffe, wiewohl man inzwischen wußte, daß die Bevölkerung so nicht zu panisieren war. Das entwickelt Overy in bestechender Prägnanz. Besonders plastisch wird er beim Luftschutz, sei es Radar- oder Flak-Abwehr, seien es Sperrballone – oder eben die Menschen mit Sandeimer und Feuerpatsche. Die Luftschutzorganisation war im Nazi-Reich jedenfalls mit 9 Millionen Mitgliedern die größte überhaupt. Overy konzentriert sich zwar auf den Konfliktkern Deutschland-England, geht aber ebenso differenziert auch auf die anderen Schauplätze ein, Rußland, Frankreich, Italien, Osteuropa (Kapitelüberschrift dazu: „Überall, nur nicht in Auschwitz“). Und er endet mit den wohl auch noch künftigen Konflikten der verschiedenen Erinnerungskulturen. Immerhin sieht er darin keine wirklichen Brisanzpotentiale mehr, wie auch Keith Lowe am Ende die vorsichtige Hoffnung aufbringt, dass das inzwischen verheißungsvolle Verhältnis von Deutschen und Polen auch für die anderen Europäer modellhaft wirken möge. Ach ja, Deutschland! Dem Land Europas mit den meisten Nachbarn wird, je labyrinthischer sich die allgemeine Interessens- und Einfluß-Lage verkompliziert, immer mehr zugetraut oder auch nur zugeschoben. Und das sei auch gut so, meint der irische Starhistoriker Brendan Simms. Denn es sei ja schließlich immer um Deutschland in Europa gegangen. Alle haben es hin und her geschoben, sind dort eingefallen, haben sich eingemischt – oder fühlten sich oder waren tatsächlich von ihm bedroht. Gute 550 Jahre geht er von heute aus zurück, ins ausgehende Mittelalter, als West- und Mitteleuropa sich einerseits einer eigene Identität versicherte, andererseits tief gespalten war. Da sei Deutschland gewissermaßen politischer Puffer zwischen Frankreichs und Englands Interessen gewesen. In einem monumentalen, auf siebenhundert Seiten (Anmerkungen nicht mitgerechnet) überwältigenden und brillanten Erzählbogen kommt er schließlich in der allerjüngsten Gegenwart an, um Deutschland vorzuschlagen, es solle zum Wohle Europas zukünftig stärker mit England denn mit Frankreich zusammengehen. Naja, Historiker sind bisher immer noch als Historiker am solidesten geblieben …Placeholder infobox-1
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