Der halbwegs aufgeklärte Mensch mag über die Ukraine nichts mehr wissen, weil alles den Blutdruck hochtreibt; der halbwegs abgeklärte in ihm wird nicht aufgeben, mehr zu erfahren. Jens Mühlings Reisebuch ist da ein gutes Antidot. Odessa, Kiew, Sewastopol, Donezk tragen Fähnchen auf der inneren Karte der Zeitungsleser, aber Medyka, Rachiw, Winnyzja, Cherson, Milowe? Mühling ist die Ukraine durchreist, kreuz und quer. Initial: Ein Münzsammler spürt Münzen aus dem Boden, österreichische, polnische, griechische, russische, deutsche. Und ukrainische? Die gibt es doch erst seit 20 Jahren. Ein uraltes Land, ein neuer, naja, Staat. Reisen in einem Zug, dessen Schienen mal durch die Ukraine, mal durch Moldawien schlängeln. Die Sockel von Lenindenkmälern. Wodka, Wodka und nochmals Wodka. Und immer wieder Menschen und Gespräche, helle und düstere Köpfe. Die Oligarchen, belehrt ihn zum Beispiel einer, sind vom Blut her keine Ukrainer, sondern Juden. Aber da ist auch Herr Michel, der aus Kasachstan über Deutschland in die Ukraine kam, um dort anzupacken. Oder der junge Historiker, der lächelnd erklärt, dass es in Chortyzja mehr selbsternannte Kosakenhauptmänner als Pferde gebe. Man lese selbst, was nicht zusammenzufassen ist: So viel Impressionen, so viel Futter für die Neugier, so viele Menschen, um derentwillen man die Hoffnung nicht fahren lassen darf. Hier fuhr ein nüchtern Hoffender. Beeindruckend!
Ihr Gassen von Palmyra! / Ihr Säulenwälder in der Ebne der Wüste, / Was seid ihr?“ Hölderlins Frage lässt sich beantworten: ein Traumbild und Wunschort der Antiken- und Orientsehnsucht. Nicht alle konnten, wie Prinz Friedrich Karl von Preußen kurz vor seinem Tod 1885, den Jugendtraum aus dem Bilderbuch mit der Realität vergleichen, doch schon für Goethe gehörten die Kolonnaden zum obligatorischen Bilderschatz. Seit der Zerstörung des Baal-Tempels und anderer unschätzbarer Denkmäler, seit dem Ausverkauf antiker Schätze durch die Schwarzhirnigen des IS ist Palmyra auf die Verlustliste des Weltkulturerbes geraten. Kaum einer könnte berufener davon erzählen als der hochbetagte französische Althistoriker Paul Veyne. Er, der dort unzählige Male war, bietet sich hier an als „Fremdenführer in die Vergangenheit“. Palmyra ist eine zwar kurze, aber tiefe und intensive Vertikalreise. Sie beginnt um 200 n. Chr., indem sie einen damaligen fremden Besucher die Vertrautheiten des Hellenisch-Römischen und Fremdheiten des Aramäisch-Syrischen ebenso auf sich wirken lässt wie den Kontrast zwischen der eher unspektakulären Stadt (Fontane nannte sie eine „Gründerstadt“, wie Berlin) und dem „zivilen Monument“ der Kolonnaden – keine Verkehrsstraße, vielmehr Prunkstück, teilweise auch Flaniermeile.
Von dort aus führt er zurück in die gut viertausend Jahre von Tadmor, wie die Stadt noch heute arabisch heißt. Wie ein guter Reiseführer erklärt er beiläufig Zusammenhänge und bringt unaufdringlich den Reichtum seines Wissens ein, dass man die ausgewählten Bildbeigaben gar nicht zu benötigen meint. Als Novize möchte man am liebsten referieren und referieren. Die Wissensbereicherung wird noch gesteigert durch Veynes Altersweisheit und Wehmut, die durch alle Zeilen sich ziehen, die Fassungslosigkeit, die jedoch blanke Wut sich nicht erlaubt. Indes Bemerkungen wie diese: „Wenn in unserer Zeit viel von Identitäts- und Kulturimperialismus gesprochen wird, vergessen wir leicht, dass Modernisierung durch Übernahme fremder Gebräuche in der Geschichte eine weit größere Rolle spielt als Nationalismus.“
Obwohl es nicht gerade der Logik und der etymologischen Her-kunft entspricht, wird das Fremde nahezu durchweg dem Eigenen gegenübergestellt statt dem Vertrauten, es wird als Differenz- statt als Distanz-Begriff benutzt. Damit macht man das Fremde fremder, als es zu sein pflegt, denn einer der Effekte im unvermeidlichen Umgang mit ihm ist ja, das Vertraute, vulgo Eigene, befremdlich(er) werden und so wahrnehmen zu lassen, dass und wie viele koexistente Fremdheiten es gibt.
Fremd sein!, so der Titel des neuen Kursbuchs (Nr. 185), gibt dem eine weitere Wendung, denn er changiert zwischen Existential und Imperativ. Es geht mithin um den Camus’schen Fremden (und Kamel Daouds Antwort darauf), um die Nordafrikaner von der Kölner Domplatte, um einheimische Islamisten, indigene Brandstifter und -beschleuniger. Es geht um die, die aus Europa in einen Krieg ziehen, der „den Westen“ vernichten soll, und um die, die unter anderem deshalb nach Europa flüchten, das wiederum in ihnen den Untergang Europas und „des Westens“ sieht.
Das Wort haben hier die Intellektuellen, solche mit heimisch wie (für Uraltheimische) ausheimisch klingenden Namen. Solche, die im Beobachten, Denken und Schreiben zu Hause sind – was gemeinhin die Wahrnehmung eigener wie anderer Fremdheit steigert. Es gibt viel sorgenvolle Resonanz und einige gut meinende Redundanz. Das meiste ist aber schlichtweg ebenso informativ wie denkförderlich. Für mich besonders Naika Foroutan, Alfred Hackensberger, Armin Nassehi und Wolfgang Schmidbauer. Letzterer: „Gerade weil wir uns durch den Angehörigen einer fremden Kultur verunsichert fühlen, neigen wir dazu, das Fremde nicht fremd sein zu lassen, sondern seine Leerstellen mit eigenen Traditionen und Idealen zu ergänzen.“ Und da ist Gregor Dotzauer, den das „Verschwinden des Fremden im Umgang mit dem Anderen“ vexiert und der schlichtweg gegen die Kulturalisierung wie Sexualisierung ethnischer und sexueller Differenzen plädiert.
Info
Schwarze Erde. Eine Reise durch die Ukraine Jens Mühling Rowohlt 2016, 288 S., 19,95 €
Palmyra. Requiem für eine Stadt Paul Veyne Anna Leube, Wolf Heinreich Leube (Übers.), C. H. Beck 2016, 127 S., 17,95 €
Kursbuch 185: Fremd sein! Armin Nassehi (Hg.) Murmann 2016, 19 €
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