Lokales vom Tage

Triptychon Berlin 1810 - 1945 - 2000

Bücher über ein einzelnes Jahr zu schreiben, ist Mode. Doch wenn ein Gelehrter das tut, der seine Bildung nicht als Abwehr-, sondern Lockmittel versteht, wird daraus eine kulturgeschichtliche Preziose, die dem nostalgischen Berlin allemal besser steht als alle die reflexhaften Zwanziger-Jahre-Anrufungen. Also 1810. Ein Jahr, zeigt Theodore Ziolkowski, in dem die Facon der Stadt sich radikal wandelte. Resignation und moralischer Niedergang, in denen man sich nach der Niederlage von Jena eingerichtet hatte, wurden zumindest zwischen Gendarmenmarkt und Schloss in einem Kraftfeld geistiger Mobilisierung hinweg gefegt, um dem Aufbruch in ein patriotisch hochgestimmtes Selbstbewusstsein Platz zu machen. Auch wenn das gerade mal ein Jahr währte und die Protagonisten sich alsbald zerstreuten oder privatisierten, auch wenn einstweilen nur die auf der Hasenheide turnenden Jünglinge Jahns blieben, und auch wenn auf die hochgemute Erhebung 1812/13 später nur kleinliche Allianz aus borniertem Junkertum und verbohrtem Nationalismus folgte, so hat dieses Jahr doch für Berlin, Preußen und die deutsche Kultur erhebliche historische Fernwirkungen gehabt. Dabei stand es, im Juli, zunächst unter Schock: der plötzliche Tod der kultisch verehrten Königin Luise. Der brachte das Volk zu Tränenflüssen und die Dichter zu Ergüssen. Luisenfrommer Vaterlandsschmerz, Arnim und Brentano gleich um die Wette. Der eine evangelisch, der andere katholisch. Überhaupt die Poeten. Es wimmele von ihnen in Berlin, schrieb Arnim, und hockte zusammen mit Brentano, Eichendorff, Fouqué, Adam Müller, Carl Maria von Weber und vielen anderen - Kleist nicht zu vergessen. Der sorgte für das nächste Ereignis: Am. 1. Oktober abends wurden hinter der katholischen Kirche die ersten Berliner Abendblätter verteilt. Eine journalistische Novität, Boulevard damals: Lokales vom Tage! Bericht über abgebrannte Häuser neben flammenden Theaterkritiken. Einmischung in die Politik. Während der Hof sich über ästhetische Aufweichung des Militarismus in der Prinzenerziehung sorgte, wurde hier hochgerüstet, die Sicherheit der Throne auf Poesie zu gründen. Dazu gehört schließlich auch das dritte Ereignis, die nicht feierliche, eher beiläufige Eröffnung der Universität Ende Oktober. Auch wenn die Philister barmten, die sich von den 600 Huren, die den 200 Studenten weichen mussten, mehr Gewinn versprachen, es war die fulminante Säkularisierung der Romantik durch die brillantesten Köpfe der Zeit. Alles das erzählt, beschreibt und deutet Ziolkowski, ausholend und einbettend, so, dass nicht nur die Zeit lebendig wird, sondern ihre Lebhaftigkeit überspringt: Am liebsten möchte man gleich nachsehen, ob Florian Illies die Berliner Seiten hinter der katholischen Kirche feilbietet. Ach! Was für ein Jahr!

Theodore Ziolkowski: Berlin. Aufstieg einer Kulturmetropole um 1810, Klett-Cotta-Verlag, Stuttgart 2002, 325 S., 22 E


Frühjahr 1945. Eine weiträumige, aber unerbittlich immer enger auf Berlin zulaufende Bewegung - die der alliierten, der sowjetischen Truppen hauptsächlich. Gegengeschnitten mit der Perspektive Berlins, in dem angeblich der Volksmund Charlottenburg zu Klammottenberg, Lichterfelde zu Trichterfelde und Steglitz zu Steht nix erklärte. Eine Stadt in der Geiselnahme durch eine wahnsinnige Bunkerexistenz und deren Apparat kalter Selbstzerstörungswut. Nachdem Joachim Fest unlängst das Ende Hitlers in der Reichskanzlei als düsteres Kammerspiel vorlegte, gibt es nun ein groß orchestriertes, panoramatisch ausladendes Werk über den Wahnwitz zu lesen. Der angesehene britische Historiker Beevor schildert auf einer breiten Basis von Quellen und reichlich vorhandener Forschungsliteratur den verbissenen, immens verlustreichen Vormarsch der sowjetischen Armeen einerseits, die ebenso verbissenen, immer widersinniger werdenden Abwehrversuche der Deutschen andererseits. Vor allem bemüht sich Beevor darum, im Bewusstsein zu halten, dass bei allen großen Linien der Welt-, Politik- und Militärgeschichte es die schier unendlichen Einzelschicksale sind, aus denen sich das Ganze zusammensetzt, die es aber nicht wieder herausgibt, nur hier und da, in zufälligen Dokumenten. "Ein Donnerschlag der Artillerie. Aber wenn er verstummt ist, hört man die Vögel zwitschern" - Notat des Schriftstellers Wassili Grossmann. Hier eine Tagebuchaufzeichnung, dort ein Brief. Beevor liefert so immer wieder illustrierend, manchmal tröstliche, meist aber erschütternde Einzelheiten. Das wird vor allem im Zweifrontenkrieg deutlich, den die Bevölkerung Berlins auszustehen hatte - hier die fanatisierten, exekutierenden oder sprengenden Landsleute, dort die wütenden, raubenden und vergewaltigenden Russen. Bunkerexistenz, Schlangestehen, Vergewaltigung. Der Kriegsalltag von Frauen. Während die Lemuren im Führerbunker per Telefonanruf in die Außenbezirke testeten, wo die Russen gerade standen, hier das stunden-, zum Teil tagelange Verharren fern vom Tageslicht, in Angstlähmung und psychischen Ausbrüchen, in Schweiß und Gestank. Hier das stupide, oft zwecklose, stets aber gefährliche Schlangestehen um weniger als das Nötigste, dann wieder das Hocken im Bunker, um auf die Lichtkegel der Taschenlampe zu warten, auf die unweigerlich die Vergewaltigungen folgten. "Alle Frauen vergewaltigt. Die Berliner haben keine Uhren mehr." Notiert Markus Wolf, der am 27. Mai in Berlin gelandet war. Vor allem lässt Beevor die Frauen sprechen. Und er lässt nichts aus. Unglaublich, was man ertrug, wie Besonnenheit und Bestialität beieinander lagen, auf beiden Seiten. Und noch unwahrscheinlicher: Wie aus den Trümmern Behausungen wurden. Wie die Menschen weiter- und wieder auflebten.

Antony Beevor: Berlin 1945: Das Ende. Aus dem Englischen von Frank Wolf. C. Bertelsmann-Verlag, München 2002, 533 S., 26 E


Tote Stadt hieß die Gegend vom Volkspark Friedrichshain nach Norden, nachdem die SS Ende April 1945, um Schussfeld gegen die Russen zu haben, das Viertel niedergebrannt hatte. Da fuhr auch die Tram 74 nicht mehr. Die DDR baute in den Fünfzigern auf und heute fährt der 100er bis dahin, die Lieblingslinie der Touristen. Doch die Mühe, mit der das einst so bewunderte, von den Bomben und Sprengungen abgesoffene und zerstörte, dann durch die Mauer zerschnittene Netz des Berliner Verkehrs inzwischen fast vollständig geflickt worden ist, wird für selbstverständlich genommen. Außer von Annett Gröschner. In einer Reihe von Erkundungen - exzessive Fortführungen dessen, was Franz Hessel in den Zwanzigern als gespielter Tourist getan und was Alfred Döblin seinem Franz Biberkopf als Tort angetan hatte - hat sie 1999/2000 die Stadt durchquert und gekreuzt. Mit Bus und Tram gleichermaßen, doch mehr in der Tramzone, wo kaum noch einer weiß, dass die 23, die einzige Tram, die auch in den Westen fährt, früher die 3 war. Annett Gröschner aber weiß das - alles. Überhaupt erinnert sie sich sehr an früher. Nostalgische Blicke aufs Vergangene, Vergehende und unter anderen Vorzeichen Wiederkehrende. Gern fährt sie zu den Endhaltestellen, deren Faszination und Melancholie seltsam anweht, erfährt man, dass zu "Ostzeiten" dort noch "Pausenbetreuung" der Fahrer üblich war. "An der Endhaltestelle Alt-Rüdersdorf, Karl-Liebknecht-Straße, stehen Mädchen mit Moonboots an der Tankstelle und schauen den an- und abfahrenden Autos zu. Hinter den Reihenhäusern hat die Welt ein Ende. Weiter als die 88 kommt keine Straßenbahn Berlins." Auf Fahrten zu solchen Enden fühlt sie sich wohl. Oder wenn auf der Linie 20 die Mitfahrer zu 20 Prozent schwarz fahren. Der Westen ist nicht so traulich. Ein Kapitalismus, wo man Zweitwagen fährt und Frank Steffel wählt und der Fahrer bei Schwarzen nicht gerne anhält. Schöner, wenn es in Mitte symbolisch wird, wie die Werbung an den Galeries Lafayette: "DIE ZUKUNFT BEGINNT HIER. Ab und an wird die der Passanten durch herabfallende Glasfassadenteile bedroht, die auf den Gehwegen zu Tausenden kleiner Stücke zerspringen." Ein bisschen Sozial-Roman-Tick. Aber das macht nichts, weil sie viel er-fahren hat, sich an vieles erinnert und ihr viel auf- und einfällt, so dass man manchmal sogar vergisst, keinen Roman, sondern Stadtexkursionen zu lesen. Und manchmal ändert sich diese Verkehrswelt-Stadt sogar zum Besseren, wie man den nachgetragenen Aktualisierungen entnimmt: Der TXL fährt jetzt bis Alexanderplatz und ohne Zuschlag! Einen Zuschlag hingegen hätte man sich bei den wundersamen, Innen und Außen verbindenden Panoramaaufnahmen mit der russischen "Horizont" gewünscht, die Arwed Messmer zum Buch beisteuert. Vielleicht, wenn Annett Gröschner demnächst über den S-Bahn-Ring fährt?

Annett Gröschner: Hier beginnt die Zukunft, hier steigen wir aus. Unterwegs in der Berliner Verkehrsgesellschaft. Fotos von Arwed Messmer. Berlin Verlag, Berlin 2002. 214 S., 19 EUR

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