Mit außergewöhnlicher Erfahrung

Symptome der Selbstdisziplinierung Haruki Murakamis Interviews mit Opfern und Tätern des Tokioer Giftgas-Anschlags von 1995 zeigen die Arbeitsbesessenheit der fernöstlichen Gesellschaft

Fünf hochqualifizierte und hochrangige Mitglieder nahmen den von der Spitze der Aum-Sekte kommenden Befehl an, sich statt der Entwicklung einer automatischen Laser-Waffe nun einem Giftgas-Anschlag auf die Tokioter U-Bahn zu widmen. Sie entschieden sich, das Nervengift Sarin, in Beutel, wie man sie etwa für Blutplasma verwendet, zur Tarnung mit Zeitungen umwickelt, während des morgendlichen Stoßverkehrs in verschiedenen U-Bahnen gleichzeitig auszulegen und mit Hilfe angeschärfter Regenschirmspitzen zu durchbohren. So geschah es am 20. März 1995, kurz nach acht Uhr früh auf insgesamt fünf Linien. An einem "wunderschönen klaren Frühlingsmorgen", einem Montag, dem ein Feiertag folgen würde. Dem Umstand, dass viele der Pendler sich den Brückentag freigenommen hatten, ist zu danken, dass es nicht mehr Opfer gab: Betroffen waren 5 500 Personen, 3.800 davon teils nachhaltig geschädigt und zwölf getötet. Bedenkt man Verwirrung und Desorganisiertheit nach dem Attentat, ist die Zahl der Toten gering. So ließ man ein Päckchen auf einer Bahnstation liegen, was allein vier Todesopfer bedeutete, und ein verseuchter Zug wurde sogar noch einmal in der Gegenrichtung eingesetzt. Um 11 Uhr hatten die meisten Krankenhäuser noch immer keine Ahnung; die erste offizielle Information des Gesundheitsamts kam nach 16 Uhr. Betroffene, Behörden und Behandelnde erfuhren meist aus dem Fernsehen, was geschehen war. Vor allem aber war die Zahl der Todesopfer deshalb vergleichsweise niedrig, weil die Attentäter entkommen wollten und darum die Verflüchtigung des Sarin durch Beigabe von Acetonitril herabgemindert hatten. Undenkbar, wenn es sich um Selbstmord-Attentäter gehandelt hätte! Die Folgen waren ohnedies schlimm genug, Tausende erlitten Atemlähmungen, konnten nicht mehr sehen, wurden von heftigen Migräneattacken befallen, hatten tagelang Schüttelfrost und hohes Fieber. Die Spätfolgen reichen bei Hunderten von lebenslangen Lähmungen, Nachtblindheit, Atemnot bis hin zu mangelnder Leistungsfähigkeit, Gedächtnisstörungen, Ängsten und Phobien.
So widerwärtig der Anschlag war, er wurde bald vergessen - ja, regelrecht verdrängt. Nach dem 11. Septembers 2001 allerdings brachte der in Japan populäre, mit seinen Romanen Mr. Aufziehvogel, Gefährliche Geliebte und Naokos Lächeln auch bei uns bekannte, Autor Haruki Murakami unter anderem in der Süddeutschen Zeitung und der New York Times in Erinnerung, dass seine 1997 und 1998 veröffentlichten Interviews mit den Opfern und mit Anhängern von Aum zur Verarbeitung der jüngsten Schrecken etwas beitragen könnten.
Nahezu zeitgleich mit einem 1988 in Japan erschienen Roman, Tanz mit dem Schafsmann, liegen nun diese Interviews in deutscher Übersetzung vor: Untergrundkrieg.
Den Anschlag des militanten Untergrunds auf die Untergrundbahn hat Murakami in 62 Interviews mit Opfern und acht Interviews mit damaligen Aum-Mitgliedern dokumentiert. Was man zu lesen bekommt, macht nachdenklich weit über die Frage nach Terrorattacken hinaus. Ob Schneiderin oder Chefin eines Mode-Labels, Garnelen-Spezialist oder aus der Filmbranche, hoher Luftwaffenoffizier oder Bahnbeamter, sie alle wirken in der Wiedergabe des Unfassbaren seltsam gefasst, lakonisch, sachlich - der Mann, dessen Kinder sich an den Ausdünstungen seines Mantels vergifteten, der Bruder, der jeden Tag nach der Arbeit eine Stunde fährt, um seine seither gelähmte und geistig behinderte Schwester zu füttern und ihre Erinnerungen zurückzurufen, der Bahnbeamte, der versuchte, das Sarin mit Zeitungen aufzuwischen und, anders als zwei Kollegen, mit dem Leben davon kam. Und wenn er dann noch sagt: "Ich bin kein Opfer, ich bin ein Mensch mit einer außergewöhnlichen Erfahrung", dann erscheint das angesichts verbreiteter Viktimitätskonkurrenz geradezu wohltuend. Doch schon schwant die Verdrängung darin. Oder das Symptom einer Selbstdisziplinierung - aus einem ›normalen‹ Alltag gerissen, arbeiten die Betroffenen sich mit aller Kraft wieder in diesen Alltag zurück, der gegen ihr nachgebliebenes Leiden desinteressiert bis feindlich ist.
Darum ist Murakamis Arbeit wesentlich mehr als die Rekonstruktion eines schauerlichen Ereignisses, gibt er doch den Opfern, was die Täter ihnen nahmen und was die Gesellschaft ihnen versagt, Achtung, Erinnerung und Würde, zurück, indem er sie zu Wort kommen lässt. Wenn er Interviews aus dem Umfeld der Täter hinzufügt, dann nicht im Sentiment wahlloser Allzumenschlichkeit. Sichtlich angestrengt bemüht er sich hier, Fäden dessen in die Hand zu bekommen, was zur Katastrophe führte. Natürlich gerät man sehr schnell auf die Spur von Besonderungs- und Reinheitswünschen, Unbedingtheit der Ansprüche und Ambivalenzverweigerung, aber auch darin sind die Profile durchaus unterschiedlich - der eine verachtet Bücher, der andere ist leidenschaftlicher Leser, die eine ist aufmüpfig, der andere unterwürfig.
Schließlich versucht Murakami vorsichtig allgemeinere Schlüsse zu ziehen - und kommt auf den Konflikt von offenen und geschlossenen Kreisläufen: Auf Überforderungen und Ängstigungen durch ein offenes System versprechen geschlossene Systeme Erlösung von Offenheit. Für Murakami sind die jüngsten Konflikte daher keine zwischen Nationen oder Gesellschaften, sondern zwischen Bewusstseinszuständen - eben offenen oder sich verschließenden. Zugleich hält er fest: "Vereinfacht gesprochen wären ›sie‹ dann ein verzerrtes Spiegelbild von ›uns‹." Wer will das - zumal in solcher Allgemeinheit - bezweifeln? Doch lädt das Buch geradewegs ein, von seinem Material her dem Fazit zumindest einen anderen Akzent zu geben. Wenn nämlich etwas in den Aussagen besonders auffällt, dann ist es die zentrale Stellung der Arbeit. So unterschiedlich die Berufe der Opfer, so gleich ist ihr Rapport einer irren Arbeitsdisziplin. Immer wieder Arbeitsüberlastung und Schlafmangel. Wer irgend noch konnte, ging statt ins Krankenhaus zum Arbeitsplatz, wo man meist wenig Verständnis für Krankheit und Schwäche fand. Eben jene unter Kollektivdruck internalisierte Arbeitsdisziplinierung beklagen auch die Anhänger von Aum. Allermeist erschien ihnen als Ausweg aus dem Hamsterrad von Verausgabung und mangelnder Regeneration, einzig, wenn nicht Selbstmord, der Weg in die Sekte. Es ist durchaus nicht Arbeit selbst, sondern die als perspektivlos und fremd erfahrene, ritualisierte Arbeitsorganisation mit ihrer zunehmend unbefriedigenden Gratifikation durch Konsumversprechen. So ist nur vermeintlich paradox, dass die Aussteiger im geschlossenen Kreislauf der Sekte geradezu glücklich die schlimmsten Arbeitstorturen auf sich nehmen, eben weil es ihnen Sinn verheißt. Am Ende allerdings müssen sie, die sich freudig der Ausbeutung durch Sinnversprechen unterwarfen, eben dieses Versprechen als höchste Form von Selbstentfremdung erkennen. Doch noch jene, welche sich entsetzt von der Sekte lossagten, behalten sie, merkwürdig abgespalten, in wohlwollender Erinnerung, machen sie zur nostalgischen Utopie: "Selbst wenn alles mit einem schrecklichen Alptraum zu Ende ging, ist ihnen die warme, strahlende Erinnerung an den Frieden geblieben, den sie anfangs bei Aum fanden. Dieses Gefühl ist nicht leicht zu ersetzen." Auch darin lässt sich in einen nicht gar so fernen Spiegel unserer nächsten Nähe blicken ...
Eines der Opfer zog für sich im Blick auf beide Seiten die Bilanz, dass das Individuum "einen stärkeren Stellenwert bekommen muss". Dem wird man - und keineswegs nur für Japan - kaum widersprechen wollen. Zwar ist das kein Allheilmittel, aber unter allen Gegenmitteln das mit den bisher geringsten schädlichen Nebenwirkungen.

Haruki Murakami: Untergrundkrieg. Der Giftgas-Anschlag von Tokio. DuMont-Verlag, Köln 2002, 400 S., 18 EUR

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