Mitten in Europa

Historie Ulrich Herbert versucht, seine soeben erschienene „Geschichte Deutschlands im 20. Jahrhundert“ behutsam in Relation zu den Nachbarländern zu erzählen
Ausgabe 26/2014

Ulrich Herbert ist zweifellos einer der profiliertesten Historiker der jüngeren Generation, also eine Art Nachfolger der Wehlers, Mommsens oder Winklers. Nun dies: eine über 1.400 Seiten umfassende Geschichte Deutschlands im 20. Jahrhundert. Sie steht im Verlag C.H. Beck in einer Reihe zur Europäischen Geschichte im 20. Jahrhundert, in der Bände zu Spanien, Polen, Großbritannien, Jugoslawien, Russland und Italien erschienen.

Herberts Darstellung wirkt durch den schieren Umfang gegenüber den anderen Bänden zwar hegemonial, doch ist der 61-Jährige stärker darauf bedacht, sie in Relation zu den anderen Geschichten zu sehen; obendrein erzählt er sie in erstaunlicher Gelassenheit und Ausgewogenheit, wesentlich souveräner und unverbissener als zuletzt etwa Hans-Ulrich Wehler. Es fehlen angenehm die Zänkereien von Forschungsdiskussionen. Zudem entgeht er jeglicher Versuchung zu foregone conclusions, zu einer Teleologie ex post. Stets wird der Horizont offen gehalten für mögliche alternative Entwicklungen. Es gibt keine Zwangsläufigkeiten, sondern Akteure und Strategien, freilich auch sich hinterrücks durchsetzende, akkumulierte Kräfte.

Das kommt besonders dort zum Ausdruck, wo Herbert einsetzt, nämlich mit dem Jahr 1870 – also den Jahrzehnten der Modernisierungsbeschleunigung auf allen Gebieten. Er spricht gar von einer „Neuerschaffung der Welt durch Technik, Wissenschaft und Kapital in diesen Jahren“. Das habe jene stark gemacht, die dem nicht gewachsen waren oder sich als Opfer sahen.

„Dass der Erste Weltkrieg überhaupt und dann in diesem bis dahin nie gekannten Ausmaß der Gewalt entbrannte, war Folge und Ausdruck der zuvor erlebten Prozesse der radikalen Entgrenzung und Veränderung.“ So versucht Herbert Eric Hobsbawms Polarität zwischen kurzem 20. und langem 19. Jahrhundert aufzugeben, indem der Krieg zwar zum radikalen Umschlagspunkt für die weitere Entwicklung wurde, aber eben nicht aus dem Nichts rührte, sondern die Steigerung der vorausgegangen Dynamik war. Derart erscheinen die Jahrzehnte unmittelbar vor Kriegsbeginn als die zukunftsoffensten der deutschen Geschichte, als eine Zeit der „stabilen Krise“ eher denn andere als Referenzzeit der heutigen.

Herbert wartet nicht mit grundstürzenden, spektakulären Umdeutungen auf. Seine Kraft liegt in den Korrekturen mit Augenmaß. Bei ihm erscheint der Erste Weltkrieg stärker in die deutsche Verantwortung genommen als jüngst bei Christopher Clark oder Herfried Münkler, ohne auf alte Positionen zurückzufallen. Prägnant stellt er die Spannung zwischen nationalistischen Begeisterungsausbrüchen, dem alsbaldigem Leben mit „Ersatz“ und den exorbitanten Gewinnen der Kriegsindustrie mit bis zu 200 Prozent dar!

Ständig neue Normalitäten

Eigentümlich klischiert wirkt die Zeit zwischen 1923 und 1933. Gerade dort, wo Herbert einmal seinen wissenschaftlichen Ausgangspunkt nahm, scheint er nicht mehr aufgefrischt zu haben. Besonders fällt die Ferne zu Medien und Künsten auf, gerade für eine Zeit, in der diese Entwicklungen von durchaus gesellschaftlicher Tragweite waren. Schon für die Zeit bis 1918 konnte man derartige Aspekte vermissen, die übers Formelhafte hinausgingen. Dabei liegt mit Peter Sprengels Geschichte der deutschsprachigen Literatur für 1870 – 1918 ein fundamentales Referenzwerk vor. Zur Weimarer Republik verstellen ein paar magere Tucholsky-Zitate die kulturelle Komplexität der Zeit mehr, als dass sie sie illustrierten.

Zu großer Form laufen dann wieder die Kapitel zur Nazizeit auf: Wie er für die Zeit davor die ständig nachgebetete Formel von der Demokratie ohne Demokraten zu Recht widerlegt, so betont er nun gegenüber der vorausgegangenen Anomalie auf Dauer die zeitgenössische Wahrnehmung von Normalisierung im so verlockenden Versprechen der „Volksgemeinschaft“. Innerhalb weniger Jahre kippte diese – durch Ausgrenzung und Verfolgung erkaufte – „Normalität“ in jene Anomalie, die die Nationalsozialisten von Anfang umtrieb: Der Krieg wurde auch zu einer Normalität der manichäischen Alternativen von Sieg oder Niederlage, wir oder die. Die damit einhergehende industrielle Vernichtung der Juden war bei allem grundständigen Antisemitismus nicht von vornherein geplant, sondern eskalierte nach und nach.

Die mit dem Krieg neuerlich, nun in ihrer dunkelsten Seite, forcierte industrielle Modernisierungsdynamik kam nach dem Krieg den Westzonen freilich eher zugute als der DDR, die sich in der Schwerindustrie verbohrte und sich zu spät in planwirtschaftliche Konsumlenkung verstrickte. So konnte Adenauer in seinem patriarchalen wie hellsichtigen Pragmatismus der Trias von Westintegration, Wiederbewaffnung und sozialer Marktwirtschaft nahezu zwei Jahrzehnte bestimmen. Die zeichneten sich durch die immer stärker klaffende Schere von wirtschaftlich-technischer Modernisierung und sozialer wie kultureller Gebremstheit aus. Die wurde dann durch 1968 und die Folgen zumindest verkleinert. Das alles liest sich nicht ganz ohne den Anklang eines Nachrufs auf glücklichere Zeiten.

Nicht ganz so glücklich erscheint die DDR: Herbert berücksichtigt sie nicht mehr als Wehler in seinem letzten Band. Zumindest für die Jahre 1945 bis 1953 wäre allein schon wegen der politischen und kulturellen Dependenzen und Konkurrenzen eine gemeinsame Darstellung angebracht gewesen. Es entsteht der Eindruck, dass der Teil über die Zeit nach 1989 höchst ausgiebig, informativ und plastisch, freilich auch zeitgenossenschaftlich verstrickter, daherkommt und aus der robusten Perspektive auf die DDR ihre alternativloser als möglich erscheinende Kontur der Zustimmung zu den Entwicklungen erhält. Zwar stimmt man dem gerne zu, doch gibt es zumindest andere, die das aus guten Gründen nicht so sehen wollen. Damit sind wir allerdings auch in der Kampfzone der Gegenwart angelangt, die sich ja gerne in der unmittelbaren Vergangenheit austobt.

Bleibt das Fazit: Ulrich Herbert hat ein Buch vorgelegt, das für eine Generation dennoch zu dem Referenzwerk der deutschen in der europäischen Geschichte werden könnte.

Geschichte Deutschlands im 20. Jahrhundert Ulrich Herbert C.H. Beck 2014, 1.451 S., 39,95 €

Der digitale Freitag

Mit Lust am guten Argument

Verändern Sie mit guten Argumenten die Welt. Testen Sie den Freitag in Ihrem bevorzugten Format — kostenlos.

Print

Die wichtigsten Seiten zum Weltgeschehen auf Papier: Holen Sie sich den Freitag jede Woche nach Hause.

Jetzt kostenlos testen

Digital

Ohne Limits auf dem Gerät Ihrer Wahl: Entdecken Sie Freitag+ auf unserer Website und lesen Sie jede Ausgabe als E-Paper.

Jetzt kostenlos testen

Dieser Artikel ist für Sie kostenlos. Unabhängiger und kritischer Journalismus braucht aber Unterstützung. Wir freuen uns daher, wenn Sie den Freitag abonnieren und dabei mithelfen, eine vielfältige Medienlandschaft zu erhalten. Dafür bedanken wir uns schon jetzt bei Ihnen!

Jetzt kostenlos testen

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden