Seit die Vögel in der Natur immer seltener werden, baut man ihnen Nistkästen aus Büchern. Von Anleitungen zum Birdwatching, die schon deshalb so erfolgreich sind, weil die meisten Menschen einigermaßen Spatzen von Krähen unterscheiden können und anderes Gefleuch kaum noch zu sehen ist, bis zum aus Materialmangel und Pietät nicht geschriebenen Vogelkochbuch darf jeder, der den Griffel für eine Feder hält, seine Meise piepen lassen.
So konnte nicht ausbleiben, dass wir erfahren, was wir Menschen von Vögeln noch lernen können, nämlich alles über Nestwärme. Doch nicht nur das. Ernst Paul Dörfler, der auf dem Autorenfoto so mild-freundlich lächelt, wie es keine Lachmöwe je könnte, erzählt uns auch von der Fürsorge, Freundschaft und Treue der Vögel, die daneben so raffinierte Naturheilkundler sind, dass jede Krankenkasse neidisch wird. Wir erfahren, dass Nachtigallen und Rohrsänger das sind, was sie sein sollen, nämlich begnadete Sänger, dass sich in ihren Nestern qua Nestwärme aber leider Parasiten einnisten. Das alles ist ehrenwert zusammengetragen, warum? Um nicht zuletzt das Verschwinden der Vögel aufzuhalten. Aber ach, verschwände der Mensch wie ein Gesicht im Sand, wären nicht nur die Möwen ungestört, sondern könnten auch die Reiher die Bäume ungestört zu Skeletten scheißen.
Warum diese Bosnickelei gegen einen, der voll guter Absichten ist? Vielleicht, weil sein Buch der schon von Montaigne begrübelte Tropfen ist, der das Fass überlaufen ließ. Mein Gott, warum können die Naturschmuser die Natur nicht ebenso in Ruhe lassen, wie sie es von den Großagrariern und Monsanto fordern? Glauben sie wirklich, dass der Frust, der aus unhaltbaren Versprechen entsteht, geringfügiger sein dürfte als der Beschiss der Chemie?
Krieg ist auch so ein Ding. Da wir jubilatorisch unersättlich sind, konkurrieren bei den Angeboten Dreißigjähriger, Erster und Zweiter, Vietnam-, Rosen-, Drogen-, Cyberkrieg. Revolutionen nicht zu vergessen.
Was Krieg und Revolution miteinander zu tun haben, das ist nicht das nebensächlichste Thema von Dieter Langewiesche. Der gewaltsame Lehrer – der Titel, der von Thukydides stammt, hört sich an wie aus der Prügelpädagogik. Hier schreibt jedoch kein Bellizist vom Vater alle Dinge, auch wenn er als Historiker weiß, wie sehr Kriege Geschichte strukturieren. Was nun der Autor aus sehr langer und gründlicher Forschung zu sagen hat, kann Freunden der Nestwärme wenig gefallen. Nun sind, nimmt man nur genügend kosmischen Abstand, Generalisierungen immer möglich, zum Beispiel derart, dass Kriege zum Kolonialismus, aber auch Kriege zur Dekolonialisierung führten, ebenso, wie Revolutionen und Krieg so wenig zu trennen sind wie Krieg und Nationalstaaten. Beeindruckend arbeitet der Autor heraus, wie sich die regulative Idee von der zivilisatorischen Einhegung des Krieges als europäischer Sonderweg entwickelte, der freilich nicht davon abhielt, außerhalb den exzessiven der Kolonialimperien zu gehen.
Der Lehrer Krieg verhält sich scheint’s so wie zwangsweise Lehrer in der Bildungspolitik: Unterm Versprechen des Fortschritts gibt es permanente Veränderungen, deren Folgen durch Revisionen erneuert und vertieft werden. Und im vogelbeschaulichen Überblick könnte man allenfalls zur Maxime aus Wagners Parsifal gelangen: „Die Wunde schließt der Speer nur, der sie schlug.“
Dies Buch ist – löblich – hauptsächlich eine Geschichte der Frauen, ihrer immensen Leistungen in dieser Zeit – und davon, wie sie dann alsbald zurückgedrängt und reformatiert wurden: Wolfszeit. Deutschland und die Deutschen 1945 – 1955. Ziemlich am Anfang steht der Mythos von den Trümmerfrauen, der zurechtgerückt wird, ohne die Last der Frauen damals zu schmälern.
Das Wunder der Enttrümmerung einerseits, am Beispiel Frankfurts am Main als weitsichtige Public-private-Partnership der Stadt mit der Ph. Holzmann AG, die nach Entledigung von ihren jüdischen Mitarbeitern an nahezu allen Großgewerken der Nazizeit mitgearbeitet hatte und nun das entsprechende Know-how mitbrachte. Parallel dazu aber die Trümmer als Kulissen, nicht nur für die einschlägigen Trümmerfilme, sondern ästhetisches Faszinosum für Modefotografien oder Hochzeitsarrangements. Beeindruckend das Kapitel über die große Wanderung, über Vertriebene und Flüchtlinge, all die DPs, die Displaced Persons aus den KZ und den Zwangsarbeiterlagern, eine Zeit der Wohnungslosigkeit – und der Konjunktur von Hochstaplern, von falschen Ärzten oder Adligen und richtigen Heiratsschwindlern. Die Zeit von Schwarzmarkt, Plünderungen, Lebensmittelkarten und Schiebereien. Die Zeit einer neuen Tanzwut, von Amüsement und Karneval, ebenso eine Zeit der Frauenzeitschriften, die im Double Bind ermutigten und gängelten.
Natürlich darf der Komplex Volkswagen, Wolfsburg und König Nordhoff nicht fehlen. Das wohlbekannte Ressentiment gegen die Remigranten, am Beispiel von Thomas Mann, Hans Habe und Rudolf Herrnstadt. Und da wären wir dann bei einem der blinden Flecken, einem besonders argen. Die DDR kommt nahezu nur vor in der Person Herrnstadts, der pauschalen Gruppe Ulbricht, der Sage von den gebildeten Russen und den „Nischenidyllen der DDR“. So ist das endliche „Glück“ der alldem entkommenen und daran gereiften Deutschen doch wieder nur ein Privileg der Bundesrepublik …
Mit Ernst Blass verbindet sich reflexhaft der Titel seines Lyrik-Bandes, mit dem er 1912 berühmt wurde: Die Straßen komme ich entlang geweht. So lag es nahe, den Filmkritiker Blass als „Lyriker“ seiner Profession zu betiteln. Jedoch war Blass zuallererst ein Verteidiger des Publikums, wie er sich selbst als Zuschauer charakterisierte, der über seine „Gemütsbewegungen“ berichte. Natürlich ist das eine Untertreibung. Er geht davon aus, dass man nicht der „Kunst“ wegen ins Kino gehe, sondern um von einer „versinnlichten Phantasie“ ergriffen zu werden. Blass nimmt das Publikum gegen Veredelungsansprüche in Schutz: Es lese eher Krimis als „parnassische Strophen“, könne aber sehr wohl zwischen guten und schlechten Krimis unterscheiden. Und so auch im Film zwischen „guter und schlechter Popularität“. Blass kämpft gegen die „Verwechslung von Populär mit Vulgär“, ätzt gegen „Depressionsgeseires“ wie vor allem gegen alles „Breiige“ und Verschwiemelte.
So erkennt er an Leni Riefenstahl „viel Verschwommenes und Unbegründetes im Ausdruck“, kritisiert Ruttmanns Unentschiedenheiten und an Fritz Lang, dass dessen mangelnder „Sinn für die Mitte“ alles „gemästet“ aussehen lasse. Er delektiert sich hingegen an Buster Keaton, Charlie Chaplin und Harold Lloyd und lässt sich von den Russenfilmen beeindrucken.
Man lernt hier nicht nur einen engagierten Kritiker im Tagesgeschäft neu kennen, sondern begegnet in den 147 Texten noch einmal der Vielfalt des Kinos in den 20er Jahren, zwischen Stumm- und Tonfilm, Melodram und Slapstick, Natur und Fantastik, Kolportage und Kunstanspruch. Der sorgfältig gemachte Band, dessen Nachwort leider etwas frankensteinhaft aus Zitaten und Themen zusammengenäht ist, ist eine Bereicherung für alle cineastisch und kulturhistorisch Interessierten.
Info
Nestwärme. Was wir von Vögeln lernen können Ernst Paul Dörfler Hanser 2019, 288 S., 20 €
Der gewaltsame Lehrer. Europas Kriege in der Moderne Dieter Langewiesche Historische Bibliothek der Gerda Henkel Stiftung, C. H. Beck 2019, 512 S., 32 €
Wolfszeit. Deutschland und die Deutschen 1945 – 1955 Harald Jähner Rowohlt Berlin 2019, 480 S., 26 €
In Kino Veritas. Essays und Kritiken zum Film. Berlin 1924 – 1933 Ernst Blass Elfenbein 2019, 280 S., 22 €
Should I stay or should I go
Kommt der Brexit, wird auch Nordirland die Europäische Union verlassen müssen. Die offene Grenze zwischen Nordirland und der Republik Irland war eine grundlegende Bedingung des Friedensabkommens von 1998, nach mehr als 30 Jahren „Troubles“, blutigen Konflikten zwischen Katholiken und Protestanten. Die offene Grenze würde mit dem Brexit zur harten EU-Außengrenze, was den fragilen Friedensprozess im Land gefährden könnte. Der 1977 in Esslingen geborene Toby Binder fotografierte für Wee Muckers. Youth of Belfast (Kehrer 2019, 120 S., 35 €) Teenager aus protestantischen und katholischen Vierteln in Belfast. Die Langzeitdokumentation zeigt die Allgegenwart von Arbeitslosigkeit, Drogenkriminalität und Gewalt, die Jugendliche in Belfast schon heute belastet, egal, auf welcher Seite der „peace wall“ (Friedensmauer) sie leben.
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