Das Papier ist das materielle Mittel unsers gesamten geistigen Verkehrs, der Vermittler unsers Ideenaustausches, der Träger unserer Gedanken, Empfindungen, Gefühle, der treue Behälter der Früchte menschlicher Forschungen.“ Das konnten die Leser des Pfennig-Magazins 1834 zum Lobe eben des Materials lesen, worauf das Magazin gedruckt war. 1840 dann brachte es gleich mehrfach Elogen zum 400. Jubiläum von Gutenbergs Druckerpresse, deren Erfindung in ferner Vergangenheit auf das – erfundene – Datum des 24. Juni 1440 festgelegt worden war.
Kein Wunder, dass die Presse massiv das Lob des bedruckten Papiers sang; man verdankte ihm ja die massenhafte Existenz. Vielleicht lobte man auch, um von jenem Schicksal abzulenken, das Heinrich Heine befürchten ließ, im Kommunismus diene sein Buch der Lieder dann nur noch zum Eintüten von Gewürzen. Immerhin nicht zum Einwickeln von Fisch, das Christian Dietrich Grabbe die Kategorie der „Heringsliteratur“ einführen ließ. Von der allfällig hinterwärtigen Nutzung zu schweigen.
Technische Innovationen
Die Presse war es ja auch, die von den technischen Innovationen seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert – Papiermaschinen und Schnelldruckpresse – maßgeblich profitierte. Aber nicht nur das. Entscheidend für sie wurde, dass die Chemie bei der Ersetzung des bisher aus Lumpen fabrizierten Papiers half, nämlich durch die Optimierung des Holzschliffs und die Zellstoffbereitung. Papier aus Holz – später der Albtraum jeder Archivarin und jedes Bibliothekars – wurde massenhaft möglich auch deshalb, weil die Verlagerung des industriellen Energieverbrauchs auf Kohle und dann Öl die Wälder dafür freigab.
So ließ diese Sparte der Papierwelt alle anderen leicht vergessen. Buch- und Zeitungsdruck feierten sich fortan im Zeichen und Zeitalter Gutenbergs. Dabei wurde ausgeblendet, dass Papier von viel weiter herkam und viel mehr zur sich modernisierenden Welt beitrug, als nur Druckfläche zu sein. Wer das Richtige recht zu lesen versteht wie der Literaturwissenschaftler und SZ-Feuilletonist Lothar Müller, kommt dem auf die Spur. So findet Müller in Jean Pauls Leben Fibels (1811), wie der Erzähler die heillos zerstreuten Reste des Drucks von Fibels Lebensbeschreibung u.a. in Kaffeetüten, Heringspapieren, Fidibussen, Papierdrachen oder Stuhlkappen, Papierfenstern, Vogelscheuchen und – natürlich – auf Aborten findet. Papier kommt in der Literatur aber auch als Einwickelpapier vor, vom luxuriösen Geschenk- bis zum derben Packpapier. Und es kommen vor: Ölpapier vorm Fenster, Fliegenfänger, Ausweispapiere, Laternen, Spielkarten und Papiergeld, Briefe und Notizzettel, aber auch Haarbeutel, Kragen und Manschetten, für Kinder zudem Papierkronen, -helme, -säbel. Last but not least Briefmarken, Scherenschnitte, Papiertheater, Tapeten und Tempo-Taschentuch.
Wer wie Lothar Müller den Blick nicht nur aufs Gedruckte, sondern aufs Papier selbst richtet, vor dem entfaltet sich eine eigene Welt. Wenn Johann Gottfried Seume immer wieder vom „papiernen Jahrhundert“ oder Hoffmann von Fallersleben von der Gegenwart als der „papiernen Zeit“ sprach, griff das noch zu kurz. Auch hier hat Jean Paul die Dimensionen erweitert, wenn er vom „papiernen Zeitalter“ sprach. Und das reicht weit vor Gutenberg, ganz tief zurück, wenn nicht gleich zu den Wespen, so jedenfalls zu den alten Chinesen. Von denen das Papier, vermittelt über die Araber, via Spanien und Italien dann zu uns kam. Das setzt denn auch nicht die Bibel, sondern den Koran an den Anfang, glücklicherweise mindestens ebenso die Geschichten aus Tausendundeiner Nacht. Worin sich der schöne Satz findet: „Das Meer lag vor uns wie ein glattes Stück Papier.“
Papierengpässe
Vor allem aber stutzt es die Rede von den „Medienrevolutionen“ aufs rechte Maß. „Das Papier, das sich in existierende Routinen einnistet, sie verstetigt und entfaltet, ohne sie hervorzubringen, und das die Speicherung und Zirkulation von Daten eher begünstigt als von sich aus erzwingt, taugt schlecht als Held einer Medienrevolution.“ Vielmehr ist Papier für Müller ein „stiller Teilhaber“ an verschiedensten Kulturtechniken. Und eben dies macht sein Buch so bemerkenswert. Es zeigt, indem er den einschlägigen Aposteln McLuhan, Innis und Kittler durchaus die Reverenz erweist, wie die Behauptung der Revolution tatsächlich eine interessante Legende ist, während es tatsächlich um Evolution, Ausprobieren, Umwidmungen, Verlagerungen, Verdrängungen und Ersetzungen, um Schübe, Vor-, Rück- und Seitenwege, um Pfadverzweigungen und -abhängigkeiten ging. Um Phänomene, so vielfältig wie die Erscheinungs- und Nutzungsarten des Papiers.
Weiße Magie lautet der Titel. Und alsbald zeigt sich darunter, dass auch die Magie keine ist: Der erreichbare Grad an Weiße des Papiers war sozialabhängig, bestimmt durch die Stoffqualität der benutzten Hadern, „weil nur aus möglichst weißem Leinen feines weißes Papier werden konnte“.
Die Epoche des Papiers, so der Untertitel, ist Sach-, Kultur- und Literaturgeschichte in einem. Die Rohmaterialien wie die Verfahren, die technischen Innovationen, das damit verbundene Personal vom Papiermüller bis zum Lumpensammler – alles kommt nach und nach auf Müllers Papier, das selbstverständlich „aus verantwortungsvollen Quellen“ stammt. Qualitäten wie Quantitäten. Der Pro-Kopf-Verbrauch, der in Deutschland von 0,5 Kilo um 1800 über 2,5 Kilo im Jahr 1873 anwuchs, um bis zur Jahrhundertwende auf 18 Kilo hochzuschnellen, ebenso wie die Verwendungsarten um 1928 (etwa ein Drittel für Verpackung, 8 Prozent u.a. für Diverses und Hygiene). Oder der Zusammenhang von Kleidungsgewohnheiten und -moden mit Papierengpässen und -qualitätsmängeln. Und es war einmal mehr Jean Paul gewesen, der auf eine Konkurrenznutzung der Haderlumpen hinwies: Sie wurden „mehr zu Scharpien [d. i. Verbandmaterial] als zu Papieren zerzupft“. Das alles ist kulturhistorisch in pointierte Anekdoten und geduldige Analysen verpackt, noch bei der vermeintlich trockensten Materie von stets größter Transparenz und Erhellungskraft. Der vielleicht schönste Aspekt dieses Buchs aber ist, wie es der Literaturgeschichte eine ganz neue, eigene Dimension abgewinnt.
Rettung aller Dichterpapiere
Dass die Literatur Mündlichkeit, die Intimität des Briefs oder der Tagebuchaufzeichnungen imitierte, wie sie wiederum aus anderen Büchern sich erzeugte – diese Einsicht wird hier ergänzt um den Blick auf den Blick der Bücher aufs ureigene Material. Rabelais, Grimmelshausen, Defoe, Sterne (und sein Marmorpapier), Jean Paul, Lichtenberg, Goethe, Balzac, Dickens, Zola, Henry James, James Joyce, William Gaddis oder Wilhelm Dilthey, Letzterer im selbst erteilten Auftrag zur Rettung aller Dichterpapiere – sie alle dienen nicht bloß als Blutspender, sondern bekommen ihre Anregungen durch feinsinnige Interpretationen vergolten, die wiederum dem Leser Lust auf (erneute) Lektüre machen.
Nach dem langen, aber nie langweiligen Weg durch die Epoche des Papiers hält Müller sich am Ende nicht bei Spekulationen übers elektronische Zeitalter und mit dem Auseinandertreten von Drucken und Publizieren, Gedrucktem und Ausgedrucktem auf, sondern stellt schlicht fest: „Wir leben, bis auf Weiteres, immer noch in der Epoche des Papiers.“ Papier, von dem Rainald Goetz sich „zugeschissen“ fühlte, erscheint hier als Stoff, aus dem auch fernerhin noch unser Leben ist. Und wer will, kann nun auch die entsprechende Essenz dazu bekommen; Karl Lagerfeld hat unlängst bei Steidl ein Parfüm unter dem Titel Paper Passion auf den Markt gebracht. Dem kann auch fast nicht Abbruch tun, dass Verlagskollege Günter Grass ein Gedicht dazu schrieb…
Weiße Magie. Die Epoche des Papiers Lothar Müller Hanser 2012, 383 S., 24,90 €
Erhard Schütz schreibt für den Freitag auch die Kolumne Sachlich richtig
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