Grenzen denken wir zuerst räumlich; es sei denn, wir denken an unser begrenztes Erdenwallen. Zeitgrenzen sind noch profaner, zum Beispiel wenn Bücher aus dem Herbst schon im Frühjahr ausgegrenzt werden. Doch was tun mit einem Wälzer, zumal, wenn er von einem geradezu unbegrenzt gelehrten Autor stammt – und sein Thema Grenze nahezu entgrenzt scheint? Ich habe ihn mir über Monate nach und nach vorgenommen.
Alexander Demandt entwickelt den Begriff Grenze erst einmal kategorial und geht selbstverständlich auf räumliche und temporale Grenzen ein. Ohne Grenzen keine Formen. Selbst wer alles im Fluss wissen will, grenzt sich gegen die ab, die Ufer und Wehre wollen. Biblisch setzte Gott gegen die Versuchung zum grenzenlosen Wissen Adam und Eva vor die streng bewachten Grenzen des Paradieses.
Demandt ist Althistoriker. So haben zuerst der Orient, China, Griechen und Römer breiten Raum, ehe es über Germanen und Mittelalter in die Neuzeit geht, um über Kriegs- und Nachkriegszeit die unmittelbare Gegenwart zu visitieren. Das ist Seite für Seite dicht mit Wissen gespickt. Haltepunkte bieten pointierte Sentenzen, aphoristisch, gern auch sarkastisch. Demandt ist ein lauterer Konservativer, entsprechend distinkt sind seine Kommentare, etwa zur „Willkommenskultur“. Man muss sie nicht teilen, aber hat es nicht leicht mit ebenso gut begründeter Widerrede. Am Ende bleibt ein enzyklopädisch so facettenreiches Werk, dass es ins Regal mit den Handbüchern gehört.
Mit dem Grenzenlosen ist es so eine Sache. Ist man nicht gerade ein Extremphilobat, der das Risiko liebt, fürchtet man leicht, was alles so entgrenzbar ist. Etwas weiter entfernt, zumal bei Tieren, denen man seit geraumer Zeit endlich mehr Aufmerksamkeit widmet als nur dem, was von ihnen auf den Teller kommt, ist es schon wieder faszinierend. Und Grenzenlos, das Buch über die Tierwanderungen, fesselt, indem es von Kenntnis ebenso wie Empathie geleitet, anschaulich und fundiert zugleich erzählt.
Wir wollen nicht herumsophistisieren und gegen die Grenzenlosigkeit darauf weisen, dass Vögel sich in der Luft, Meeresgetier sich im Wasser und die anderen Lebewesen auf dem Land fortbewegen und nicht nach Gusto im anderen Medium, oder dass ihre Wanderungen, ausgelöst von hormonellen Reizen, zeitlich höchst exakt terminiert sind, denn diese Wanderzüge sind einfach zu imposant in ihren Leistungen wie letztlich unergründlich in ihren Impulsen. Ob Schmetterlinge, Störche oder Schwalben, Lachse, Aale oder Heringe, Schildkröten oder Wale, Gnus oder Karibus – man erfährt nicht nur das jeweils Spezifische, sondern bekommt einmal mehr Gründe zur Ehrfurcht vor den Metamorphosen der Lebewesen wie, so ein Kapitel des Buchs, dem „Kreislauf des Lebens“.
Adrien Proust war einer der bedeutendsten Epidemiologen des 19. Jahrhunderts. Als „enzyklopädischen Allesfresser“ hat Lothar Müller ihn bezeichnet, gebildet, weitgereist, bestens vernetzt, aber von nur einer Idee getrieben: Bekämpfung von Pandemien, speziell der Cholera, durch Kontrolle ihrer internationalen Verbreitungswege. Sein Sohn Marcel war ganz das Gegenteil des robusten Vaters, ein kränkelnder Einsiedler auf der Suche nach der verlorenen Zeit. Scheinbar, denn er war ja ebenfalls bestens vernetzt. Der Vater in seinen Werken ein taxonomischer Hierarch alter Schule, der Schriftsteller-Sohn ein Virtuose des enzyklopädischen Nebeneinanders.
Lothar Müller zeigt in Wechselbewegungen zwischen der Welt des Vaters und der des Sohnes deren Zusammenhänge und Trennendes. Er liefert profunde Einsichten in die Geschichte der Seuchenbekämpfung, zugleich eröffnet er in den rekonstruierten Bezügen und Absetzungen das Romanwerk des Sohns auf seine wie unsere Zeit hin, erweist dessen nach wie vor stupende Wirksamkeit, wenn man denn nicht allzu bequem über dem nicht einschlafen wollenden Knaben des Anfangs die Geduld verliert, sich vielmehr auf die Windungen der schier endlosen Sätze mit ihren Parenthesen- und Klammereinschüben einlässt. Dann wird der Roman zum Buch der Stunde der Nach-Massengesellschaft. Es geht zum Suezkanal und nach Venedig, in verblüffende Konstellationen und überraschende Beziehungen, Müller entwaffnet die wissenschaftlichen Verächter des Literarischen ebenso wie die literarischen Ignoranten der Wissenschaften – und bleibt dabei so hellsichtig wie er verlockend klar zu schreiben versteht.
Grenzenlose Ambitionen hatte von Anfang an die Universum Film AG, kurz Ufa. Das war zu Zeiten des Stummfilms leicht möglich. Auch sonst war die Ufa in den 1920ern international ausgerichtet. Kulturfilmexporte in die USA und die Sowjetunion, gern mit Fokus auf Sex. Aparterweise war man in der ehemaligen Sowjetunion von Colin Ross, dem späteren Nazipropagandisten, höchst angetan. Französische Filmversionen, Hans Albers auf Deutsch in Jerusalem. Exporte nach Brasilien, Japan und China.
Nach 1933 brach das Geschäft ein. Mit Nazideutschland wollten viele nicht mehr so gern. Wenn man Märkte nicht überzeugen kann, muss man sie unterwerfen. In allen besetzten Ländern stieg der Anteil der Ufa-Filme rapide, in Belgien von neun auf 73, in den Niederlanden von 20 auf 81 Prozent. Nach dem Krieg sollte der Konzern zerschlagen werden, aber zuvor gab es in der Sowjetischen Besatzungszone noch ein paar gern gesehene Überläufer aus den letzten Kriegsjahren. In der BRD, wo man sich schamfrei gegen Rechtsansprüche Ausgetrickster wehrte, versuchte man, über Bankeneinfluss, die Deutsche Bank voran, den Konzern wiederauferstehen zu lassen. Es folgte eine Folge von verschwundenen Millionen, Kapitalvernichtung, hochstapelndem Möchtegern-Mogul, Zerschlagung und 1964 der Verkauf an Bertelsmann. Dies in gerafftester Form, was 24 internationale Wissenschaftler grenzüberschreitend zusammengetragen haben. Acht Seiten Filmtitel und 16 Seiten Personenverzeichnis bezeugen es.
Info
Grenzen. Geschichte und Gegenwart Alexander Demandt Propyläen 2020, 656 S., 28 €
Grenzenlos. Die erstaunlichen Wanderungen der Tiere Francesca Buoninconti Werner Menapace (Übers.) Folio 2021, 206 S., 22 €
Adrien Proust und sein Sohn Marcel. Beobachter der erkrankten Welt Lothar Müller Wagenbach 2021, 224 S., 22 €
Ufa international. Ein deutscher Filmkonzern mit globalen Ambitionen Philipp Stiasny, Jürgen Kasten, Frederik Lang (Hrsg.) edition text + kritik 2021, 454 S., 39 €
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