Ödnis, Krise, tiefes Gelingen

Literatur Unser Kolumnist Erhard Schütz reist durch Kulturgeschichten des 20. Jahrhunderts, inklusive „Schwarzwaldklinik“. Manches gerät dabei episch!
Ausgabe 42/2021
An Energie fehlte es den 80ern freilich nicht
An Energie fehlte es den 80ern freilich nicht

Foto: Everett Collection/IMAGO

Alexander Wolff arbeitete für Sports Illustrated und hat Bestseller über Sport, zumal Basketball, verfasst. Er ist ein Enkel von Kurt Wolff, dem legendären Verleger von Kafka, Kraus, Trakl und anderen. Der Untertitel seines Buches verspricht die deutsch-amerikanische Geschichte des Großvaters. Doch bietet es viel mehr: Nicht weniger als eine europäisch-amerikanische Kultur-, Exil- und jüdische Familiengeschichte.

Kurt Wolff war notorisch bekannt für seine Affären; indes nur zweimal verheiratet. In erster Ehe mit Elisabeth Merck aus der Pharma-Dynastie, zu deren Produkten Eukodal gehörte, jene Droge, die nicht nur Adolf Hitler süchtig machte. In zweiter Ehe nahm ihn Helene Mosel 1933 zum Mann, Mitarbeiterin Wolffs und Autorin des wunderbaren Romans Hintergrund für Liebe. Sie lebte seit 1930 mit ihm in Frankreich und ging mit ihm ins US-Exil, wo sie den Pantheon-Verlag gründeten, dessen größter Erfolg die amerikanische Ausgabe von Doktor Schiwago war. Die beiden Familien hielten über die Nazijahre engen Briefkontakt. Die Kinder aus erster Ehe, Maria und Niko, waren in Deutschland geblieben. Niko wurde Soldat, in der Ukraine, kam in der Eifel in amerikanische Gefangenschaft, ging 1948 in die USA, studierte Chemie, arbeitete bei DuPont, bis er sich selbstständig machte.

Alexander Wolff schildert seinen Vater, der sich nun Nick nannte, als einen eher verschlossenen Menschen, dem es zunächst schwerfiel, sich an amerikanische Gebräuche zu gewöhnen, aber bald sich rundum enkulturierte, bis hin zum obligaten Kreuzworträtsel der New York Times. Er hat diese Geschichte rekonstruiert aus Familiendokumenten und Archivrecherchen, vor allem in Berlin, wo er zu dem Zweck länger wohnte. Was daran besticht, sind der weitgespannte zeit- und kulturgeschichtliche Horizont, ohne je abzuschweifen, die prägnant herausgearbeiteten Schicksale und Charaktere der Familienmitglieder, die dezent eingestreuten Reflexionen auf die Gegenwart – und in alledem der einfühlsame Blick auf Ambivalenzen und Widersprüchlichkeiten in den Lebenswegen unter Bedingungen jener Zeit, bei zugleich distinktem Urteil über die Geschehnisse und das Verhalten darin.

Albert Camus, intellektueller Held meiner Jugend (wie bei fast allen), war, was man damals einen Schwerenöter nannte. Uwe Timm tituliert es in seinem schönen Vorwort als „zwanghafte Amouren“. Von Maria Casarès wusste ich nichts, hätte aber wissen können, dass sie durch ihren Auftritt in Marcel Carnés Kinder des Olymp (1945) berühmt wurde. Camus und Casarès waren ein Paar – und romantische Briefpartner. Naturgemäß schreiben die beiden sich über ihre Arbeit, sie über Theaterengagements, nervige Proben, Kolleginnen und -en, Erfolge. Er über Schreiben, Auftritte, Kontakte, vor allem über Schaffen oder Nichtschaffen. Wechselseitig über Selbstzweifel, Ödnis, tiefe Krisen und dann doch meist Gelingen.

Allein das lohnte. Aus den Variationen ihrer Liebesschwüre gar könnte man einen einschlägigen Briefsteller machen. (Wenn es das noch gäbe.) Hinreißend beider immer wieder poetische Beschreibungen des Wetters, der Landschaft. Am faszinierendsten jedoch die geradezu körperliche Abhängigkeit von den Briefen, „Lebensquelle“, „Tag ohne Brief. Das macht zwei Tage“. Am 30. Dezember 1959 kündigt er an, per Auto zu ihr zu kommen. Am 4. Januar stirbt er bei einem Unfall.

Der – nicht nur – Musikjournalist Jens Balzer hat sich nach den Siebzigern nun den Achtzigern zugewandt, den Kohl-, Grünen- und Bundesjahren, noch ganz ohne Osten, mit den Wenden vor der „Wende“, den apokalyptischen Ängsten vor Atomkrieg und Waldsterben, denen man in Latzhosen und Schlabberpullis entgegentrat, oder als Punk rotzig, als Yuppies stilvoll egoistisch ignorierte. Rudelbildung und Individualisierung. Erstaunlich, was da alles wieder aufkommt. Alfred Biolek, der 1982 türkisch-deutsche Fernsehgeschichte schrieb, als er eine Gastarbeiterfamilie einlädt, über den immerwährenden Denver-Clan , die Mobilknochen und Armani tragenden Miami-Vice -Ermittler, Schwarzwaldklinik , Otto – der Film , Zurück in die Zukunft , Modern Talking, Michel Jackson und Prince, Hip-Hop, Cyborgs und Feminismus, Aerobic und Joggen, Videorekorder zwischen Betamax und VHS, PC zwischen Atari und Commodore, Walkman, Art Spiegelmans Maus , Fastfood-Beschleunigung durch die siegreiche Mikrowelle.

Besonders erstaunlich, wie es Balzer gelingt, dies alles und noch viel mehr nicht nur ungezwungen ordnend zusammenzubringen, sondern daraus immer wieder Aha-Erlebnisse zu destillieren.

Zu Balzers rasantem Überblick liefert Manfred Maurenbrecher eine entschleunigte Ausschnittvergrößerung, in der es freilich auch hoch und bunt hergeht. Der Liedermacher, multitalentierte Autor, der neben den Texten für sich, für Katja Ebstein, Klaus Lage oder Herman van Veen schrieb, erinnert sich an die Musikszene der 80er in Berlin, an das „Jahrzehnt des Reibachs“, ehe Musik vollends „Reizmittel zur Datenausbeute“ zu werden begann, an die Zeit seiner Wahlkampfhilfe für die Grünen und der Arbeit in Jim Raketes Fabrik mit Nena, Spliff oder Nina Hagen. Da er nicht nur Mitte der Achtziger mit Viel zu schön vom Insidertipp zum Rockpalast-Star wurde, ohnehin mittendrin war, sondern auch ein genau beobachtender Mensch ist, reflektiert sein Buch die berauschenden wie die ernüchternden Seiten jener Zeit.

Christine Wunnicke, mit ihrem 2020 buchpreisnominierten Roman Die Dame mit der bemalten Hand endlich auch einem breiteren Lesepublikum an Herz und Hirn gewachsen, findet nun auch Beachtung für ihr inzwischen beachtliches Werk aus meist schmalen, aber wissensgesättigten Bändchen. Die Texte zum Raabe-Preis, den sie 2020 erhielt, sind ein vorzügliches Entrée und ein guter Leitfaden zu ihrem verwinkelten Werk, dessen Alleinstellungsmerkmal es ist, hinterhältige Fälschungen ins Treffende und unglaublich Glaubhaftes zu liefern. In kammerspielartigen Experimentalsituationen spiele Wunnicke durch, „was geschieht, wenn unterschiedliche Verhaltensweisen und Sprachformen, kulturelle Überzeugungen und Wissensregime aufeinanderprallen“, so der Literaturwissenschaftler Bernd Stiegler. „Ich mag Geschichten, in denen sich Leute zusammenraufen, und in denen alles ein bisschen falsch ist.“ – sagt sie selbst. Unsereins mag das auch. Sehr! So, als ob Jean Paul und Leo Perutz sich zusammensetzten und dabei keine Riesenromane, sondern Epenkondensate entstünden.

Info

Das Land meiner Väter. Die deutsch-amerikanische Geschichte meines Großvaters Kurt Wolff Alexander Wolff Dumont 2021, 477 S., 26 €

Schreib ohne Furcht und viel. Eine Liebesgeschichte in Briefen 1944 – 1959 Albert Camus und Maria Casarès Rowohlt 2021, 1565 S., 50 €

High Energy. Die Achtziger – das pulsierende Jahrzehnt Jens Balzer Rowohlt 2021, 399 S., 28 €

Der Rest ist Mut. Vom Liedermachen in den Achtzigern Manfred Maurenbrecher be:bra 2021, 270 S., 22 €

Christine Wunnicke trifft Wilhelm Raabe Hubert Winkels (Hrsg.), Wallstein 2021, 128 S., 12 €

Erhard Schütz war bis 2011 Professor für Neue Deutsche Literatur an der Berliner Humboldt-Universität. Für den Freitag schreibt er einmal im Monat die Kolumne Sachlich richtig, eine konsequent verknappte, höchst subjektive Auswahl von Sachbüchern, die man unbedingt lesen sollte

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