Pimp my nazi

Angst Jonathan Littells "Die Wohlgesinnten" und Marcel Beyers "Kaltenburg" - zwei Geschichtsromane im Vergleich

Sieh niemals einem SS-Mann direkt ins Gesicht." - Das bekommt als kleiner Junge der Ich-Erzähler von Marcel Beyers Roman Kaltenburg von seinen Eltern eingetrichtert. Der Ich-Erzähler in Jonathan Littells Die Wohlgesinnten hingegen ist selbst SS-Mann, am Ende Obersturmbannführer, dekoriert mit vielen Orden. Er begegnet Figuren wie Himmler, Heydrich, Bohrmann auf Augenhöhe. Wenn er sich im Spiegel betrachtet, dann geschieht ihm, dass er beinahe ohnmächtig wird, weil er seine Zwillingsschwester Una zu sehen glaubt. Er erkennt sich auch sonst nicht, wiewohl er nahezu 1.400 Seiten nichts tut als von sich zu schreiben.

Um so mehr sollen wir, die Leser, das möchte der Autor, der in Frankreich aufgewachsene Sohn eines amerikanischen Thriller-Autors jüdischer Herkunft, in Dr. jur. Maximilian Aue des exemplarischen Täters ansichtig werden. Und das ist oder kann sein, so die Botschaft, ein jeder von uns. Denn wenn wir uns nur recht in diesem "Feingeist" und Schlächter spiegeln, dann sollen wir durch das Gesicht des Elite-Nazis hindurch die Physiognomie überhaupt der Schlächtereien erkennen, seien es die stalinistischen Auslöschungen, die Grausamkeiten der russischen Soldateska oder der terrorbombenden Angloamerikaner. Ja, die Ununterscheidbarkeit von Krieg und Genozid. Schließlich sollen wir gar die Menschenfratze seit mythischen Zeiten darin sehen, die condition (in)humaine. Aber was sehen wir tatsächlich?

Frankenstein erklärt sich

Wir sehen - das vorab - keinen Täter, der uns tatsächlich in der Auseinandersetzung mit den Tätern von damals weiterhelfen könnte. Wir sehen vielmehr das Konstrukt aus jener sachlichen Kälte der bürokratisch "Unbedingten", als die die Täterforschung all die Schreibtisch- und Waffen-Täter, die Werner Bests, Franz Alfred Six´, Wilfrid Bades etcetera, ausgemacht hat. Und zwar zusammengefügt mit den Wandersagen über die musischen Monster, inhumanen Bildungsbürger und homosexuellen Sadomasochisten. Dieser Frankenstein erklärt sich uns: "Und so entschloss ich mich, den Arsch noch voller Sperma, in den Sicherheitsdienst einzutreten." Das knallt. Aber das ist schon hundert Seiten hin, denn so zu beginnen wäre zu thriller- und vaternahe gewesen. Kunstambitioniert beginnt das Unternehmen Aue daher so: "Ihr Menschenbrüder laßt mich euch erzählen, wie es gewesen ist." Hyperiontisch-zarathustrisch raunt es uns zu Beginn der Geschichte an. "Und ihr werdet schon sehen, wie sehr sie euch betrifft."

Der Aue, der uns Menschenbrüdern erzählt, ist ungefähr 80 Jahre alt und war nach der Zeit, von der er berichten will, französischer Fabrikant von Spitzen, ein Familienmensch. Was er erzählt, beginnt - nach einem allgemeinen Schwadronement über Opferzahlen - 1941 in der Ukraine, mit einer Judenerschießung als "Antwort" auf russische Massenexekutionen. Aue geht von nun an durch den Weltkrieg wie Woody Allens Zelig oder Forrest Gump durch ihre Zeit. Überall ist er dabei. Anders als diese aber will er dabei sein und alles sehen. Babi Jar, Stalingrad, Paris, die KZ, das bombardierte Berlin, Mittelwerk Dora, Flüchtlingstreck und schließlich den "Untergang" - alles kommt vor und geht durch seinen gewollt kalten Blick.

Es ist, als ob die Forschungen der vergangenen Jahrzehnte mit den reißerischen Bestsellern von Paul Carrell und der Großväter Gräuelanekdoten gemixt würden - alles, soweit zu sehen, stimmt den Namen, Orten und Details nach, bis dahin, dass damals in Berlin die U-Bahn-Linie C fuhr. Leser könnten ihre einschlägige Bibliothek entsorgen. Wo es anachronistisch wird, da sind es Alltagsreden, wenn von "Cops" gesprochen und "Pasta" oder Schwarzwaldwild "an" einer Zwetschgensoße serviert wird. Nicht nur Namen und Fakten jedoch erinnert der alte Herr akribisch, sondern auch Dialoge und Zitate. Und damit wären wir beim "Feingeist".

Lichtsucher im Feuchtbiotop

Geboren am 10. Oktober 1913, um wenige Tage vor Klaus Barbie, dem Schlächter von Lyon, damit ein Jahrzehnt jünger als Werner Best und gewissermaßen aus der 78er Generation der Nazis, kommt Aue aus gutem Elternhaus, ist in Frankreich ins Internat gegangen, kann jederzeit mit jedermann altgriechisch parlieren, zitiert von Plato bis Kant, was gerade so passt, liest Stendhal und Flaubert wie er Tschechow und Lermontow kennt. Vor allem liebt er Musik, Monteverdi wie Mozart. Am meisten aber Bach. Dessen luzide Klarheit muss nicht nur Aue durchrieseln, sondern sein Name führt zugleich in das Feuchtbiotop dieses selbsterklärten Lichtsuchers. Aue watet nämlich buchstäblich in Blut und Gedärm, hinterlässt aber auch sonst eine einzige Spur aus Sperma, Kotze und Kacke. Der Autor will offenbar, dass dort, wo der Blick kalt bleibt, der Körper rebelliert.

So scheißt und spuckt sich Aue von Russland bis Berlin, ejakuliert von Berlin bis Russland und zurück. Ist kein schwuler Tiergarten-Schwanz da, der ihn rammt, dann tut es auch ein Fahrer oder ein Ast im Walde. Mit seiner Zwillingsschwester hat er ein inzestuöses Verhältnis von Kindestagen an. Unklar, ob er ihr nicht sogar Zwillinge gemacht hat. Klar jedenfalls, dass er Mutter und Stiefvater ermordet. Wir sollen es ja mit einer neuen Orestie zu tun haben! Zum Schluss muss auch noch ein Liebhaber dran glauben und dann erschlägt er selbst seinen Freund Thomas, der ihm immer wieder aus der Patsche half und ihn gerade eben noch vor der Strafe eines der rachegöttischen Eumeniden, der titelspendenden Wohlgesinnten bewahrte. Gleichwohl beharrt dieser Aue seiner Schwester gegenüber, noch Jungfrau zu sein, wie er von sich kategorisch sagt: "Ich töte nicht gern." Dass er zum Schluss Hitler in die Nase beißt, hat denn auch eher ästhetische Gründe.

Es ist das alles ein Graus. Nicht der endlosen Gräuel und des Bildungsbösen wegen, sondern weil das alles so aufgedonnert und aufgedunsen daherkommt. Pimp my Nazi. Das ist so durch und durch kalkuliert und synthetisch. Plastikblumen des Bösen an Körpersaft-Surrogaten in Kunstnebel-Bildung. Wer im Feuilleton vor so etwas kniet, der hat wohl ein Verhältnis zur Bildung wie Aues Vermieterin Gutknecht. Solch Kunstgefrickel mit Bildung zu verwechseln ist wie Grace Jones für Catherine Deneuve zu halten. Nicht darin ist das Buch eine Provokation, dass es das Experiment darauf unternimmt, was wir an Gräuel und Bösem ertragen wollen und können, sondern als derartige Collage aus Geschichtswissen mit saurem Kitsch, Second-Hand-Räsonnement, Pawlowschen Metaphern und Bildungsversatzstücken. Da faucht es in Aues Kopf "wie im Ofen eines Krematoriums", und er bleibt unbewegt wie "die stummen Fassaden ausgebombter Städte", da schlägt die Vergangenheit ihre Zähne ins Fleisch - und so fort.

Als Kern dieses Experiments bleibt nurmehr, dass es gefährlich ist, sich in Mamas Uterus zurückzusehnen, wenn man die Mars-Erzählungen von Edgar Rice Burroughs in seiner Jugend gelesen hat - in denen nämlich ständig Vergewaltigungen drohen und als Heilmittel strenge Zucht im doppelten Sinne empfohlen wird. So werden die Untaten des 20. Jahrhunderts in einen phylo- wie ontogenetischen Ursumpf gezogen, verschwimmen schließlich alle Differenzen in einer vagen Anthropologie. Was da als Rollenprosa eines "Meisters aus Deutschland" daherkommt, ist tatsächlich bloß bübische Überbietungsbastelei.

Plastikblumen des Bösen

Als Antidot gegen dieses in seiner grellen Mixtur aus Beobachtungskälte und deliranter Brünstigkeit so aufdringliche Buch lese man Marcel Beyers neuen Roman, tausend Seiten kürzer und doch umfassender als noch weitere tausend Seiten Littell sein könnten.

In gewisser Weise wiederholt diese Konstellation, was zu Beginn der sechziger Jahre stattfand, als durch den Auschwitz-Prozess auch die literarische Auseinandersetzung mit den Verbrechen der NS-Zeit in eine neue Phase trat. Damals standen sich auf der Bühne zwei Modelle gegenüber. Rolf Hochhuths Ideendrama Der Stellvertreter, dem Adorno die Personalisierung anonymer Zustände vorwarf, und Die Ermittlung von Peter Weiss, die als gerichtliche Investigation angelegt war, um so Strukturelles zu betonen und vor allem die Unangemessenheit mimetischer Darstellung deutlich machen, wie überhaupt die Frage nach der Ermittelbarkeit vorbringen zu können: Jonathan Littell extremisiert die mimetische Aktualisierung, indem er einen Täter umstandslos und in monströser Detailliertheit sich erinnern lässt, als ob alles gerade eben jetzt geschähe. Dagegen setzt Marcel Beyers Kaltenburg durch und durch auf skrupulöse Vermitteltheit und tastende Reflexion. Hier herrscht nicht Kalkül, sondern Durchdachtheit.

Zwar ist darin das gesamte Repertoire der Gedächtnisforschung vorfindbar - 3-Generationen-Modell, "reenactment", "false memory", Vergessen, Fehlerinnern und soziale Erinnerungsfabrikation etcetera -, aber man bekommt es nicht lehrbuchhaft serviert, sondern das geht fugenlos - "organisch", hätte man früher gesagt - in die Konstruktion ein. Wie überhaupt, was der Roman an Wissensbeständen benutzt und aktualisiert, ihm nicht als Bordüren und Schleifen appliziert, sondern konstruktiv eingesenkt ist. Und das ist nicht wenig, von Theorien der Angst, Verhaltensforschung über Ornithologie und Tierpräparationen bis hin zur Geschichte Dresdens seit seinem Untergang im Februar 1945, eingebettet in Flucht aus dem Osten nach dort und Flucht in den Westen von dort.

Schnellkurs in Vogelnamen

Allein wie er mit seinen Bezügen auf Literatur umgeht, das unterscheidet sich in seiner Dezenz - Stendhal - wie Virtuosität - Proust - ums Ganze von den prätentiösen Draperien Littells. Dabei bewegt der Roman sich in einem ähnlichen Problemhorizont von Täter-, Mittäterschaft und den Folgen rationaler Sachlichkeit und Beobachterkälte. Nur hier nicht juristisch-bürokratisch, sondern natur- und lebenswissenschaftlich. Sein historischer und gedanklicher Horizont greift viel weiter aus als der Littells. Nicht Anthropologie als wohlfeile Fatalitätsannahme und Extremisierungslizenz steht da im Zentrum, sondern das ebenso komplexe wie subtile Zusammen- und Gegenspiel von Natur- und Zeitgeschichte - kein Aufgeilen am möglichst Inhumanen, sondern Ausloten des möglichen Humanen.

Um was geht es? Im Dresden der Gegenwart versucht sich der Zoologe und Tierpräparator Hermann Funke seiner frühesten Kindheitserinnerungen, deren Korrektheit und deren Wirkungen zu versichern. Ausgelöst werden sie durch einen Schnellkurs in Vogelnamen, den er der jungen Dolmetscherin Katharina Fischer gibt, weil die einem vogelkundlichen Royal - sagen wir ruhig: Charles - beim Staatsbesuch zur Seite stehen soll. Zentrum ist der 1989 verstorbene, 1903 geborene, große Zoologe Ludwig Kaltenburg, weltbekannter Ornithologe und Verhaltensforscher, aus Wien stammend, in Königsberg und Posen tätig gewesen vor 1945, nach 1945 mit einem eigenen Institut in Loschwitz und an der Universität Leipzig, schließlich verbittert zurück nach Wien gegangen.

Man darf dabei an Konrad Lorenz denken, ergänzt vielleicht um wissenschaftliche Aspekte von Rudolf Bilz und Günter Tembrock, wenn es um Kaltenburgs Hauptwerk, die "Urformen der Angst" geht. Hinzu kommen zwei weitere signifikante Figuren, der berühmte Tierfilmer Knut Sieverding, Heinz Sielmann nicht unähnlich, und der ebenfalls berühmte Künstler Martin Spengler, bei dem man an Joseph Beuys denken darf, der Bordfunker bei Sielmann war. Eine dichte und brisante Konstellation. Kern dessen bilden zwei traumatische Kindheitserlebnisse Funkes, Momente namenloser Angst, zum einen das wilde, geängstigte Flattern eines Mauerseglers im heimischen Wohnzimmer in Posen, zum anderen die Verlorenheit unter den Überlebenden des Feuersturms von Dresden, in dem seine Eltern umkamen.

Im Schatten der Alten

Kaltenburg, der schon in Posen - wo er psychiatrische Experimente durchführte - bei der Familie ein und ausging, nimmt sich des Waisen in Dresden an wie eines aus dem Nest gefallenen Vogels. Im wissenschaftlichen Handaufzug wird der Kaltenburgs Schüler, der nun die Entwicklungen der DDR miterlebt, enttäuschte Hoffnungen, Repressionen und kleine Freiheiten, bis nach deren Ende und einem Neubeginn nun ohne die Alten, aber in deren Schatten und vor allem den Schatten der Vergangenheit vor 1945. Die hellen sich im bohrenden Erinnern langsam auf und trüben zugleich das Bild der großen Figuren, bis Funke dann doch noch einem SS-Mann ins Gesicht sieht. In seinen Themen - nicht zuletzt darunter Formen von Gefangenschaft und Lager - ist der Roman ebenso vielschichtig wie in seiner Form komplex aufgebaut, mit Vorgriffen und Rückwendungen, grüblerischen Selbstbefragungen und hin und her gewendeten Mutmaßungen - in alledem aber durch und durch transparent wie luzide.

Es ist dies ein Meisterstück, Geschichte indirekt präsent werden zu lassen, deutsche Geschichte wie die der Stadt Dresden und einiger bedeutender Persönlichkeiten, in wahrhafter Empathie, nämlich skrupulös im Spektrum der Möglichkeiten von Erinnerung und Vergegenwärtigen, Verdrängen und Vergessen, Durcharbeiten und Abarbeiten. Am Ende entspricht das vielleicht den kunstvoll präparierten Bälgen, die von den Vögeln blieben, selbst sie noch - wie die Adler des Kronprinzen oder der Dresdner Riesenalk - Zeugen von Zeitgeschichte. Was den Roman darüber hinaus aber zu einem großen Wurf macht: Jene "Urformen der Angst" und deren unheimliche Macht, über die Kaltenburg im Roman fiktiv ein Sachbuch schrieb, werden hier fiktional Realität, als Kunstwerk.

Marcel Beyer Kaltenburg. Roman. Frankfurt am Main. Suhrkamp 2008, 396 S., 19,80 EUR

Jonathan Littell Die Wohlgesinnten. Roman. Aus dem Französischen von Hainer Kober. Berlin, Berlin 2008, 1386 S., 36 EUR

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