Polit-Harlekine und Theorie-Pinocchios

Sachlich richtig Über italienische Berlin-Fantasien und andere Schockmomente
Ausgabe 25/2014
Polit-Harlekine und Theorie-Pinocchios

Illustration: Otto für der Freitag

Dass Kultur insbesondere dort, wo sie als Wirtschaftsfaktor hochgebetet wird, weil es jenseits des vergötterten Kreativsektors wenig Potentes gibt, ein Wirtschaftsfaktor ist, also in Berlin – eine tautologoische Tautologie. Wenn man als Sahnehäubchen noch draufsetzt, dass der Output solcher Kultur der permanente Event ist, der Politik und historische Erinnerung verdrängt, dazu das Ganze mit einem Potpourri an Sprach- und Denkschwurbilitäten durchmischt – dann kommt ein Büchlein heraus wie das des wahlweise als Philosoph oder Soziologe sich gerierenden Francesco Masci. Und man bekommt eine Ahnung davon, was vor einiger Zeit zwei seiner Kollegen in London als den typischen italienischen Wissenschaftshabitus behauptet haben: Höchstes Niveau zu versprechen und stillschweigend anzunehmen, Schrott genügt auch. Wenn diese herumgerührten Wolkigkeiten von der absoluten Kultur und den fiktiven Subjektivitäten einen Niederschlag finden, dann wohl unter den veitstänzelnden Schwarmgeistern um die Volksbühne. So dürfte Masci am Rosa-Luxemburg-Platz gefeiert werden. Sein Titel Die Ordnung herrscht in Berlin ist von Rosa Luxemburg geborgt. Darunter stand ihrerzeit aber entschieden Präziseres als das, was man hier lesen soll.

In den Augen seiner landsmannschaftlichen Polit-Harlekine und Theorie-Pinocchios dürfte Angelo Bolaffi, auch er wahlweise Philosoph oder Politologe, wohl kaum viel gelten. Denn zum einen ist er ein tatsächlicher Kenner nicht nur Deutschlands und Berlins, zum anderen verfügt er über eine klare Sprache und Argumentation. Sein Buch war ursprünglich als Appell an seine Landsleute geschrieben worden, aber jetzt erscheint sein Deutsches Herz auch hierzulande und als Balsam für die ausgemerkelte deutsche Seele. Auch als Prüfstein für unser Selbstverständnis, ob unser Herz wirklich so weit und stark ist, wie hier gerühmt. Auch Bolafi sieht die juvenilen Pilgerzüge nach Berlin, der „attraktivsten“ Metropole Europas. Gerade seine Landsleute kaufen sich dort ja gern immobil ein. Aber er sieht auch nüchtern die Einführung einer gemeinsamen Währung als Gründungsfehler Europas, dessen für den Süden folgenreiches Leid letztlich nur eine deutsche Leitfunktion heilen könne. Und da ist sein Buch dann wohl doch eher Nostalgie-Unternehmen europäischer Vernunft. Warum dieses Buch unbedingt zu lesen lohnt: Es ist eine so freundschaftliche wie plastische und luzide Rekapitulation der deutschen Nachkriegsgeschichte bis heute.

Die Gegenwart greift nicht mehr, wie bei Alexander Kluge, die übrige Zeit an, sondern spritzt sie sich als Botox, forever young. Was passiert, wenn alles jetzt passiert? Alles, was nicht jetzt passiert, schrumpft und verschwindet. Masci mag sich bei seiner Figur von Berlin als Mahlstrom gegenwärtiger Ereignishaftigkeit bei den Überlegungen von Douglas Rushkoff, dem früheren Cyberpunk und heutigen UNO-Berater, bedient haben. Liest man in Rushkoffs Present Shock hinein, merkt man schnell, dass es sich keineswegs um ein alarmistisches, sondern um ein nüchtern analytisches Buch handelt.

„Wenn sich alles unkontrollierbar beschleunigt, ist manchmal Geduld das einzige, was hilft.“ Wie altmodisch! Rushkoff beherrscht sehr wohl das Avantgardenhandwerk des Begriffsbrandings. Einst münzte er die „Digital Natives“ und die „viralen Medien“, hier spricht er nun von der „Digiphrenie“ oder „Fraktanoia“, was beides ein digital induziertes Hirnchaos umreißt. Eine Verschwörung löst demnach die andere ab. Am Anfang seiner Kapitel steht jeweils die Diagnose eines narrativen Kollapses. Es werde nicht mehr erzählt und Erzählungen nicht mehr zugehört.

Von wegen verdrängte Politik: In den einschlägigen Anstalten der Erwachsenenbildung neigt man, unterm Hyperventilieren von Aktualien den für politische Bildung nötigen langen Atem zu verlernen. In der Schule kümmern diese Fächer ohnehin am Rande vor sich hin. Fritz Reheis beklagt als Sozialkundedidaktiker beides.

Seine kritische Einführung in die Politische Bildung zeichnet indes aus, dass er geradezu ungerührt von Hysterie wie Depression in aller Schlichtheit an die Ziele, Voraussetzungen, Wege und Felder der politischen Ermündigung erinnert: An die persönlichen Dispositionen und institutionellen Rahmen, in denen über die prozessuale Ertüchtigung in zentralen Fragen wie sozialer Ungleichheit, dem Verhältnis von Wirtschaft und Staat sowie des Landes zu Europa und der Welt, dazu Umweltsorgsamkeit und Friedenssuche, das Ziel umgesetzt werden kann: nämlich menschenwürdige Gemeinwesen mündiger Bürger, in Wissen und Handeln. Das ist didaktisch klar und handlich informativ – und selbst ein Muster jener unerschütterlichen Zuversicht, die sich weigert, vor dem ebenso wohlfeilen wie allfälligen geistigen Annexionismus die Waffen der Vernunft zu strecken.

Die Ordnung herrscht in Berlin Francesco Masci Matthes & Seitz 2014, 14,90 €

Deutsches Herz. Das Modell Deutschland und die europäische Krise Angelo Bolaffi Klett-Cotta 2014, 21,95 €

Present Shock. Wenn alles jetzt passiert Douglas Rushkoff orange press 2014, 24 €

Politische Bildung. Eine kritische Einführung Fritz Reheis Springer VS 2014, 14,99 €

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