Radardenker schwarzer Wolken

Trennungsspezialist Gottfried Benn - aus Anlass seines 50. Todestages als kühle Angelegenheit gesehen

Der Sound der Väter. Wie Söhne wachsen auch Väter nach, wenngleich beides immer weniger wird. Da gab es einmal den Sound von Söhnen, die längst zu guten Onkeln geworden sind: "Nur wenige von den verlorenen Söhnen der Gründerjahre haben Welt bekommen, und nicht nur die Großen unter ihnen, welchen die Tragik Lebensmitgift war, starben einen tragischen Tod. Ja, ihre Hoffnungen, von keiner Erfüllung verdorben, behielten den Elan ihrer Jugend; und es ist an der Zeit, sie als die verlorenen Väter zu begrüßen."

So emphatisch hatte 1960 H. L. Greve den Marbacher Katalog zu Literatur und Kunst des Expressionismus geziert. Genau zehn Jahre später hatte Helmut Lethen dieser schwülen Adoption der verlorenen Expressionisten-Väter im Namen der Revolution - der gescheiterten Novemberrevolution und der ausstehenden bundesrepublikanischen - eine kühle Absage erteilt und damit sein noch immer unersetzliches Buch über die Neue Sachlichkeit begonnen. Gottfried Benn passte zwar nicht zum Beväterungsschwulst, kam aber bei Lethen dennoch nicht zum Zuge, weil er 1933 die Unverzeihlichkeit begangen hatte, sich den Nazis an den Hals zu werfen. Späterhin näherte sich Lethen Benn, indem er ihn in damals noch schlechtere Gesellschaft, nämlich mit Ernst Jünger und gar mit dem allfällig als Kronjuristen des "Dritten Reichs" apostrophierten Carl Schmitt zusammen brachte. Er beobachtete, wie nach 1945 Benn und Jünger sich beobachteten, vor allem die beiden aber von Schmitt beobachtet wurden, wie ihr Comeback vonstatten ginge. (Jünger fiel für Schmitt komplett durch, Benn passierte zunächst auf der ganzen Linie.)

Nun kann man im Briefwechsel zwischen Jünger und Benn nachlesen, wie Jünger sich immer wieder Benn näherte, mit so unwiderstehlichen Angeboten wie dem, unter Fachaufsicht gemeinsam LSD zu nehmen. Benn aber bleibt stets freundlich distanziert. In diesem Falle verwies er darauf, er sei nicht sehr gesellig, schweige meist und habe lediglich während des Ersten Weltkrieges kurz mit Kokain experimentiert. Kaffee und Zigaretten genügten als Stimulantien. (Bier, das er so hingebungsvoll bedichtete, war ihm wohl eher ein Sedativum.) Sie gratulieren sich zu Geburtstagen und beglückwünschen sich zu Preisen, schicken sich wechselseitig Texte, aber Benn hält höflich Distanz. Nur wenn es um gemeinsame "Feinde" geht, Johannes R. Becher oder Peter de Mendelssohn, werden sie vehementer. Einmal, im Mai 1952, treffen sie sich in der Bozener Straße in Berlin. Jünger ist über den düsteren Zustand von Benns Praxis verwirrt, erwartet vergeblich scharfe Lampen dort, wo es um "Hautbefunde" geht. Aber Benn hat selbst Ekzeme. "Ein Hautarzt, der mit Salbentöpfen reisen musste - das sah nicht freundlich aus. Leider kam dann auch bald einer der schwarz gerandeten Briefe, wie sie immer häufiger in Haus flattern." Benn war am 7. Juli 1956 gestorben.

Und nun noch einmal: Der Sound der Väter - manchmal spöttisch, meist sentimental, allemal cool war dieser Benn-Sound. Aber so recht scheint er erst einmal zu den Verhaltenslehren der Kälte nicht zu passen, die Lethen an Brecht, Jünger, Schmitt und anderen der neusachlichen Generation exerziert hatte. Benn war denn doch, bei aller Unnahbarkeit, keine gepanzerte, "kalte persona". Schon eher ging es zur Kreatur - die zu sein, er sich von den Frauen so sehr wünschte: "die Frauen müssten Kaninchen sein, sie wären dann anders organisiert, beschäftigten sich nicht damit, was wir denken u. tun, sie könnten im Bett schlafen, unten an den Füssen, es sind ja reizende Hasen." Er, der nach 1945 höhnte, man solle als Bundesfahne ein Kaninchenfell hissen, versicherte: "übrigens sind Kaninchen meine Lieblingstiere -". Darin war er am ehesten ein Radartypus. Nicht zwar jener Typus der eleganten Wendigkeit, sondern Scanner dunkler Wolken überm schwarzen Fond, Lauscher der fatalen Herkunfts- und Triebbestimmtheit. Sein historisch gleitender Mix aus medizinischem Basisvokabular, das der Laie für Sezier-Zynismus halten mochte, dazu Antikisches, aparte Enzyklopädie-Trouvaillen, dazu "südliche" Wörter, das, was avantgardistisch eigentlich gar nicht mehr ging, "blau", "Rosen", "Schnee" und "Meere", gepaart mit Reklamefetzen, Schlagerzitaten und Aufgeschnapptem aus Kneipengespräch, Radio und Zeitung - zwischen Reportageextrakt und Saxophonschluchzen - das war unverwechselbar Benns "Rhythmusmaschine" mit ihren Reimechos. Das machte eine ganze Generation nach oder versuchte, sich parodierend davon zu befreien. Schwerelose Schwere als Form. Thea Sternheim, die Benns Werk ihr Leben lang kritisch und verehrend zugleich begleitete, hatte sich schon 1917 ratlos die Frage gestellt: "Geringe Beziehung zum Westen ... Entwicklung auf naturwissenschaftlicher Basis aufgebaut. Wie kommt sein Wortschatz so ins Blühen?" Helmut Lethen nun vollbringt das Kunststück, den Lyriker Benn nicht ins Zentrum zu stellen, aber dennoch auf Thea Sternheims Frage zu antworten.

Seht her, wie gezeichnet vom schweren Denken, wie illusionslos und einsam ich bin, wie ich auf die Zähne beiße - so sehr, dass ihr (Frauen) gar nicht anders könnt als mich für empfindsam, zart und einfühlsam zu halten. "Virilismus" hat Mopsa Sternheim, die an ihrer Liebe zu Benn zugrunde ging, das genannt und es der gesamten Epoche attestiert.

Eine Biografie will Lethens Buch ausdrücklich nicht sein, schon, um sich die Freiheit zu erhalten, zwischen "Ruheplätzen" und "Kalenderstrecken" wechseln zu können. Lethen kommt nahezu ohne das Wort und ganz und gar ohne die Stereotypen des Expressionismus aus - nichts von Ich-Dissoziation, Entfremdung und Väterkrise. Benn, beobachtet als Borderliner der Satisfaktionsgesellschaft, wird so zum prägnanten Zug in einer beeindruckenden Epochenphysiognomie, in der Expressionismus und Neue Sachlichkeit sich überblenden wie Begeisterung fürs "Dritte Reich" und bittere Verachtung ineinander umschlagen. Lethen ist ein hervorragender Beobachter markanter Züge und blitzgescheiter Deuter von Lebenslinien. Und er schreibt dabei so klar, so jargonfrei und transparent, dass man das Buch wie eines jener populären, erzählenden Sachbücher liest, die Gottfried Benn geradezu verschlang und aus denen er sein Weltbild bezog und konfirmierte, ja, seine Essays mit bis zu 80 Prozent Fremdmasse collagierte.

Rönne, die Perspektivfigur der Brüsseler Novellen,: immer wieder soll da was als zerfallend vorgeführt werden, bleibt aber erstaunlich stabil. Rönne, der "geniale Dreckskerl", nimmt sich seine Auszeiten bei voller Anwesenheit, im Kasino, im Kino, bei der Visite. Er, der "Hirnhund. Schwer mit Gott behangen", bleibt 19. Jahrhundert, das sich vergebens los werden will, Produkt und Selbstbeobachter des "naturwissenschaftlichen Jahrhunderts".

Benn, der den kalten Blick demonstrativ ausstellte, "Trennungsspezialist" wie Brecht, hat es verstanden, es sich so einzurichten, dass er zu Zeiten der Neuen Sachlichkeit und des Berliner Journalistensozialismus zum Jungen gemacht wurde, der nicht mitspielen durfte. Er gab so lange den Earl, bis er den Wunsch erfüllt bekam, als Paria behandelt zu werden. Da konnte er loslegen, eben mal den ihn verdammenden "Reportern" zeigen, dass er im Zweifelsfalle der bessere Reporter war. Helmut Lethen liefert hier eine brillante Kommentierung und Analyse von Benns 1928 veröffentlichtem Augenzeugenbericht von der Erschießung der englischen Krankenschwester Edith Cavell, bei der Benn als Militärarzt anwesend war. Von hier aus verfolgt er Benns Essays weiter, in denen Paläontologie und Hirnforschung eine ebenso unhaltbare wie suggestive Mixtur bilden, und die Zivilisation, für Benn ohnehin nur eine dünne, jederzeit durchbrechbare Kruste, die durchstoßen werden soll, um das Elementare freizusetzen. Wie das die Mitte eliminiert, um den Neuen Menschen phantasieren zu können, sich im Kult des Bösen in züchterischen Überbietungsvisionen exaltiert - und wie daraus Benns "Verbrechen" entsteht: Beihilfe zur "Säuberung" der Akademie von Juden und Republikanern, Rechtfertigung der Vertreibung kritischer Intellektueller, schwadronierende Unterstützung der NS-Eugenik. Ereignisse, die nicht der Gründelei in Vorgeschichte und ewig nachlaufender Nachgeschichte bedürfen, um traktiert zu werden, sondern als abgeschlossene Tatbestände behandelt werden, der neue Situationen und andere Entwicklungen folgen: Zuallererst der Rückzug vor den ihn zurückstoßenden, beißwütigen Nazis auf die Schutz-Position des Militärarztes, der nun die eigenen Züchtungs-Halluzinationen destruiert, indem er sich zum depressiven Dekadenten, zum Aristokraten der reinen Form umbaut. Seine Invektiven gegen das Pack, für das er einmal züchten wollte, sind an Verachtung schwerlich zu überbieten.

Nach Kriegsende ist Benn einsam. Und schafft dennoch sehr bald durch ausdauernde Adepten, vor allem durch den auftauchenden Verleger Max Niedermayer, sein Comeback. Nun kann er schon wieder renommieren, man könne ihn zum Kommandanten von Dachau erklären oder ihm Geschlechtsverkehr mit Stubenfliegen vorwerfen, er werde sich nicht verteidigen. Aber er fädelt sich dadurch so erfolgreich in die Nachkriegsjahre ein, dass Carl Schmitt ihn eifersüchtig als einen "bis zur Unkenntlichkeit nihilistisch tätowierten Pietisten" beschimpft und Spottgedichte auf ihn kursieren lässt. Benn wird zum Earl des Büchnerpreises - Schmitt sieht sich als Paria in Plettenberg. Von hier aus zieht Lethen nun die Linie zum Alter-Benns, dem Radiotrinker und Kneipenhörer, zu den Parlando-Gedichten und dem Selbsttheoretisierer, der damit junge Damen und ältere Professoren gleichermaßen bestrickt, der dabei zugleich klandestin in jener Zwischenzone des Sozialen sich bewegt, die er in der Polarisierung von Somatischem und Geist stets cool-pathetisch negiert hatte. Aber der alte Fuchs kann seine Tricks nicht lassen. Im Krankenhaus, ein halbes Jahr vor seinem Tod, schreibt Benn an Walter Höllerer: "Kennen Sie den alten Matrosensong: ›Wir lagen vor Madagaskar und hatten die Pest an Bord, wir streuten giftigen Pökel, aber die Ratten gingen nicht fort.‹ - so ungefähr ist mir."

Helmut Lethen: Der Sound der Väter. Gottfried Benn und seine Zeit, Berlin: Rowohlt 2006, 318 Seiten, 22,90 EUR

Gottfried Benn / Ernst Jünger: Briefwechsel 1949 - 1956, Stuttgart: Klett-Cotta 2006, 154 Seiten, 14,50 EUR


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