Sehr viele Egozentriker

Klatsch „Der Literaturexpress“ ist ein bissiger Roman über eine Lesereise von 100 Autoren, die tatsächlich stattfand
Ausgabe 17/2016
Literatur auf Achse
Literatur auf Achse

Foto: PATRIK STOLLARZ/AFP/Getty Images

Thomas Wohlfahrt, Leiter der Literaturwerkstatt in Pankow, hatte im Sommer des denkwürdigen Jahres 2000 ein gigantisches Unternehmen organisiert; er schickte mehr als 100 Autoren aus 35 Ländern per Bahn von Lissabon bis Moskau und retour nach Berlin. Hundert kreuzfahrtgestählte Pauschaltouristen mögen da schon ein Horror sein, wie viel mehr hundert Leute, deren Alleinstellungsmerkmal es ist, sich je einzigartig zu wissen, und die ihre Muttersprache, vielleicht noch Englisch, Französisch oder Russisch beherrschen, sich ansonsten untereinander kaum verständigen können (und vielleicht gar nicht erst wollen).

16 Jahre danach ist ein Roman über eben diesen „Literaturexpress“ erschienen. Lasha Bugadze, Jahrgang 1977, angeblich einer der meistgelesenen Autoren Georgiens, hat ihn 2009 geschrieben und die hochbegabte Nino Haratischwili hat ihn übersetzt. Wenn ein Autor über Seinesgleichen schreiben kann, ist Bissigkeit bis Häme garantiert. Also ein voyeuristisches Lesevergnügen, weil man die meisten der tatsächlichen oder nur mutmaßlichen Solitäre als divenhafte Zicken, arme Würstchen, Aufschneider, Wichtigtuer oder auch nur hypochondrische Jammersäcke vorgeführt bekommt. Der Erzähler macht sich selbst (und sein Land) klein und bucklig – Zaza hat bisher lediglich ein paar Erzählungen in Georgien veröffentlicht und ist nur zufällig da hineingerutscht – er breitet seine Unterlegenheitsgefühle, seine Größenfantasien, seine Versagensängste dabei aufs Ergiebigste aus. Da das nun schelmenhaft selbstironisch bis komödiantisch daherkommt, nimmt man ihm die Kuriositäten und komischen Situationen ab. Dies und die Malaisen mit Alkoholkonsum und Körperfunktionen sowie Konkurrenzneid und Auftrittspannen bilden ein bis zum Schluss anhaltendes Lesevergnügen. Hinzu kommen Städte- und Nationalitäten(vertreter)-porträts, die so kräftig in die Stereotypenkiste greifen wie die Dichtercharakteristiken. Das nun hat seinen ganz eigenen Nutzen. Sie scheuern sich nämlich wechselweise aneinander ab. Zumal ein Kunstgriff des Romans darin besteht, immer wieder andere der mitreisenden Autoren mit ihren Beobachtungen zu Wort kommen zu lassen.

Für Zaza, den schreibblockierten Erzähler, geht es geradezu obsessiv um eine Liebesgeschichte. Er ist völlig von der schönen Helena absorbiert. Ob, was da geschieht, tatsächlich geschah oder nur imaginiert war, bleibt offen. Gleichwohl ist Zaza ständig zwanghaft mit Georgien beschäftigt, das – hier verlegt der Roman sich gegenüber der Realität zeitlich – gerade von Russland bekriegt wird, was sich nicht nur auf seine Sorgen um sein Zuhause, sondern auch auf das Verhältnis zu den mitreisenden russischen Kollegen auswirkt.

Die perfekte Frauenfigur

Derart erfährt man in diesen ständigen Abgleichen der Heimat mit den durchreisten Ländern, der Begleiter mit den eigenen Leuten, auf sehr facettierte Weise über Land und Leute, Geschichte und Mentalität Georgiens, wie nicht minder über die reale Scheckigkeit Europas.

Zaza kommt unterwegs auf ein Dilemma: Der einheimische Leser, nicht nur in Georgien, will gänzlich anderes lesen als der ausländische. Dieser will das Regionale, Realien, Lokalkolorit und Exotismus, jener aber will die Liebesgeschichte, die perfekte Frauenfigur, Sex und eventuell noch Poesie. Was den Erzähler nachhaltig paralysiert, das hat nun sein Autor virtuos auf ebenso unterhaltsame wie lehrreiche Weise zusammenbekommen. Wenn im Roman Zaza am Ende Organisator Heinz offenbart, er werde einen Roman über den „Literaturexpress“ schreiben, und von dem die entmutigende Nachricht erhält, dass ebendies so ziemlich alle hundert Mitreisenden vorhaben, dann ist in der Realität Lasha Bugadzes Roman offenbar der einzige geblieben.

Info

Der Literaturexpress Lasha Bugadze Nino Haratischwili (Übers.), FVA 2016, 320 S., 24 €

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