Seismograph im Nebelland

Präzisionsbeobachtung Dirk Kurbjuweits Roman "Nachbeben"

Es ist Neujahr. Der erste Tag des Euro. Der "alte Luis", wie er sich selbst gern nennt, ein emeritierter Professor für Seismologie, 82 Jahre alt, sitzt auf dem Kleinen Feldberg nahe Frankfurt am Main, dort, wo es circa 200 Nebeltage im Jahr gibt, in seiner Erdbebenwarte und erinnert sich. Erinnerungen, die strukturiert sind durch Erdbeben und Währungsumstellungen, zur D-Mark, zum Euro. Dieses wie jenes begleitet von Katastrophen. Vor allem erzählt er, wenn nicht von sich, von Lorenz, "meinem Lorenz", dem Sohn des Hausmeisterpaares nebenan, den einzigen festen Mitbewohnern dieser Einsiedelei.

Lorenz, das Hätschelkind aller auf dem Berg, ist Bundesbanker in Frankfurt. War es: Entlassen, weil er bis zuletzt störrisch an der DM festhielt. Aber das kommt erst viel später. Bis dahin ist unendlich viel geschehen. Nicht häufig wird man in der jüngeren Literatur einen Roman derart vollgepackt finden mit Ereignissen, Katastrophen, Überraschungen, Wendepunkten, Unglücksfällen. Oder Glücksfällen, die zu Unglücksfällen werden. Und das alles auf knapp 220 Seiten. Eine ungemeine Dichte starker Geschichten, wo schon jede einzelne Geschichte Anlass zu einem Roman hätte sein können.

Wie Luis losgeht, um 1949 mit dem frischen Kopfgeld Champagner zu kaufen, zurückgekehrt, die ruinierte Villa, in der er mit Christine hauste, eingestürzt vorfindet - in den Trümmern seine Liebe tot. Wie Lorenz in Albanien, im Liebesüberschwang, einen kleinen Jungen totfährt. Wie später ein Albaner mit Hund an seiner Haustür in Frankfurt auftaucht. Und schon gar nicht einen Roman wird man finden, in dem das Schicksal eine so mächtige Rolle spielt. Geradewegs wie in der weiland Heimatkunst: "Denn am Ende ist es unser Berg, der so harmlos Kleiner Feldberg heißt, der darüber bestimmt, was für Menschen wir sind." Gleichmütig, ängstlich, depressiv, jähzornig. Oder auch bloß impulsiv wie Lorenz in der Eingangsgeschichte, der während eines Erdbebens im Kölner Raum nächtens besorgte Anrufe entgegennimmt, darunter den einer jungen Frau in einem Hochhaus, die besonders viel Angst hat. Kurzentschlossen fährt er nach Köln, um ihr beizustehen. Woraus eine Ehe wird, die Lorenz dann wieder aufs Spiel setzt, wegen der Affäre in Albanien und wegen seiner Sturheit gegen den Euro. Wie Konrad, der geduckte Waffennarr, schließlich doch noch schießt. Wahrlich viel Schicksal und viel los!

Nur Luis behält bei alledem die Ruhe, erzählt davon mit jener Gleichmut, mit der er Jahrzehnte seine Beobachtung der Instrumente nachging. Im Wechsel mit dem Erzähler, der von Lorenz berichtet, erzählt er das Ganze und ordnet die Dinge ein. Er weiß nicht nur äußerst spannend über die Eigenheiten von Erdbeben und die Grenzen der Forschung zu berichten, er scheint auch die Schicksale deuten und heilen zu können. Er hilft mit Geld aus, wo es nötig ist, er steht verständnisvoll zu Aussprachen bereit, er ist die unsichtbare Hand der Berggemeinschaft. Er ordnet noch das Schweigen ein: "Dass Geheime der Feldberger Geheimnisse liegt darin, dass geschwiegen wird. Das ist der Modus Vivendi, mit dem wir unsere kleine Gemeinschaft über all die Jahre erhalten haben, nicht gerade glanzvoll, aber immerhin."

Doch Vorsicht! Luis ist es, der das alles erzählt und zur Gemeinschaft ordnet. Und nach und nach - und das ist das Faszinierende dieses Romans der lakonisch erzählten starken Geschichten - beginnt man zu ahnen, dass dieser geduldige Beobachter der Erde, nicht gleichermaßen, wie es zunächst scheint, die Menschen beobachtet. Dieser Seismologe ist vielmehr das Epizentrum der menschlichen Erschütterungen, der Auslöser aller weiteren Nachbeben der Seelen, von ihm selbst nicht gewollt und für alle anderen so unvorhersehbar, wie die Ausbrüche von Liebe in den Erdbebennächten.

Über ihn, der unter der Hilflosigkeit gegenüber den Erdbebenopfern leidet, der seine tektonischen Erschütterungen der Gemeinschaft, die er ständig beschwört, nicht einmal zu bemerken scheint, glückt es Dirk Kurbjuweit, sein Projekt, die Geschichte der alten Bundesrepublik, mit ihrer Nach-, vor allem aber Vorgeschichte, eingespannt in einen erd- und individualgeschichtlichen Rahmen, zusammenzuhalten und eine ebenso zwingende wie erschütternde Kontur zu geben. Was angesichts der beiden kompakten Informationsblöcke - Erdbeben und Währungspolitik - aller Vorhersagbarkeit zur durch Kolportage verbackenen Geo- und Spiegel-Reportage hätte geraten müssen, mithin zu einem typischen Reporter-Roman, das ist so allerbeste Literatur geworden.

Der zweifache Kisch-Preisträger Kurbjuweit hatte sich schon mit seiner Novelle Zweier ohne als ein beeindruckender Erzähler eingeführt. Dieser Roman nun, im lakonischen Duktus, in der atmosphärischen Dichte und den ambivalenten Charakteren allemal vergleichbar mit den besten von Simenons Non-Maigrets, ist ein deutsches Pendant zu Kazuo Ishiguros Maler der fließenden Welt, jenem Roman, der das japanische Schweigen über die Beteiligung an der eigenen Geschichte zur Geschichte gemacht hat. Oder ohne solche Vergleiche, im Bild: Mit Nachbeben hat Dirk Kurbjuweit einen Roman vorgelegt, der entschieden mehr ist als ein Highlight der Saison: nämlich ein auf längere Dauer geeichtes literarisches Präzisionsinstrument der gesellschaftlichen und individuellen Bebenforschung.

Dirk Kurbjuweit: Nachbeben. Roman, Nagel Kimche, Zürich 2004, 220 S., 17,90 EUR


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