Sog in Augenlust

ZWISCHEN KOLPORTAGE UND SCHWERMUT Wir müssen uns Wolfgang Koeppen als glückliche Romanfigur vorstellen. Anmerkungen zu seiner Prosa aus dem Nachlass

Ich komme immer zu früh", hatte Wolfgang Koeppen 1974 geschrieben. Recht besehen, war er, der stets vermeintlich Unpassende, erfolglose Unbequeme, angeblich schreibverhinderte Schweiger, aber von stets zeitgerechter Unzeitgemäßheit - zumindest was Aufmerksamkeit angeht. Denn zu keiner Zeit hat man ihn vergessen, sich nicht um ihn gesorgt. Was macht Wolfgang Koeppen - die Frage wurde stets irgendwo im Betrieb gestellt. Und unentwegt, still, resigniert, vielleicht auch zunehmend ungeduldig, hat sein Verleger sich um ihn gekümmert. Koeppen hat es ihm mit immer neuen Titel- und Textversprechen, aber auch mit Ausweichen und Anklagen entgolten.

Der Frankfurter Suhrkamp-Verlag hat zum eigenen 50. Geburtstag über 700 Seiten bisher meist unpublizierter oder in der Werkausgabe nicht wiederabgedruckter Texte Koeppens vorgelegt. Alles in allem nicht wenig für einen, dessen virtuos von ihm selbst erzeugtes Image das eines "elenden Skribenten" und unglücklichen Schweigers war. Allerdings nicht viel wiederum für einen, der fast sein gesamtes Leben Schriftsteller war. Sensationen darunter? Nein, eher im Gegenteil vieles, sehr vieles, das ohne den Namen Koeppen weder gedruckt worden wäre noch gar gelesen würde. Aber kommt er damit nicht ohnehin jetzt, da das geschriebene Fräulein-Wunder quer durch alle Geschlechter blüht und die frohgemute Bar-Plapperei die Verlagskataloge füllt, definitiv zu spät? Und eine Gemeinde, die blind alles orderte, was mit dem Namen des Autors verbunden wird, wie bei Arno Schmidt, die gibt es im Falle Koeppens nicht. Um so bemerkenswerter die Mühen dieser Ausgabe.

Über sechzig Jahre, von 1923 bis 1993 reichen die Texte, vom schülerhaften Stimmungsbild bis zum zerfaserten letzten Text des Verfallenden. Ein paar wenige längere darunter; allermeist sind es kurze Stücke - Feuilletons, Fragmente, Skizzen und Notizen. Sie folgen, wie man das sonst nur noch von Malern kennt, den großen Bögen der Stilbewegungen, der ästhetischen Konjunkturen, auch den Opportunitäten des Marktes. Und so findet derjenige, der gerne parabolische Lesebuchgeschichten liest hier ebenso etwas wie derjenige, der melancholische Stimmungen, Lebensaugenblicke oder Reiseimpressionen haben möchte wie der Liebhaber des Grellen und Grotesken auf seine Kosten kommt. Darin eine ständige Pendelbewegung zwischen Kolportage und Schwermut. Der Leser wird herumgestoßen zwischen ungemein suggestiven Passagen, jäh überwältigenden, grandiosen Sätzen und immer wieder Abstürzen in Einwegtexte und Literaturschrott.

So könnte man das Gesamt der Texte beschreiben und wäre nicht zu harsch. Und doch enthielte man damit eine wesentliche, die entscheidende Seite der Lektüre vor. Denn das neben der Hochachtung für die Radikalität der Faschismus-, Kapitalismus- und Selbstkritik der Demokratie die Aufmerksamkeit auf Koeppen und die Wertschätzung seiner ›Trilogie‹ bestimmte, das in vermeintlicher Gleichmut sich jagende Grelle, das fatalistische Sichverlaufen in und Rückkehren aus Abweichungen und Ausschweifungen, die Kurzschlüsse von Mythischem und Zeitgeschichte, die schuldhaften Völlereien in Bildern des Begehrens und die Rituale der Reinigung in Phantasien des Mönchischen, Asketischen und des Verzichts, das alles findet sich auch in diesem Band. Nur findet es sich nicht in der von den Nachkriegsromanen her gewohnten Suggestion dichter Textbewegung, sondern aufgespalten und zerlegt - wie das Material einer Montage im Stadium des Montierens.

Jochen Greven hat vor einiger Zeit das Experiment gemacht, Texte Robert Walsers zu dem zusammenzustellen, was er ein "Ich-Buch" nannte. Im Blick darauf könnte man, was Alfred Estermann in bewundernswerter Geduld und Akribie zusammengetragen hat, ein Koeppen-Buch nennen: Die Montage eines ausgreifenden und unvollendeten Romans vom Leben und Schreiben einer sich als Autor ausgebenden Romanfigur, in der Wolfgang Koeppen sein Leben mal mehr, meist weniger von sich zu entfernen unternommen hat.

Zu den Simulationen von Autorschaft gehören die ständig wiederkehrenden Texte der kolportagehaften Einfälle mit ihren grellen, melodramatischen oder platten Pointen von geradezu autoaggressiver Penetranz, wenn etwa ein Frauenmörder "Jack v. Repport" benamt wird oder ein Prometheus das Seidenkleid seiner Frau als Salat isst. Das ist allermeist nur erträglich, wenn man es als karikaturhafte Literaturimitationen liest, aus Veralberung, Verachtung oder Verzweiflung geschrieben. Dem korrespondieren auf der anderen Seite Texte, in denen das Autobiografische pur hervortritt, fast umstandslose Selbstnotate, wie - sehr früh - die Apotheose der Mutter in der Beerdigung, die imaginierte Begegnung mit dem entzogenen Vater oder - spät - die Weichenstellung ins familiale Unglück. Hinzu kommen knappe Aufzeichnungen, in denen das Leben selbst wie Kolportage erscheint, bei denen er sich - wie in der boshaften über Friedrich Sieburg - nicht einmal die Mühe der Verfremdung macht.

Alle diese Stücke, die Notizen zu möglichen Geschichten, Romanen oder Treatments hinzugenommen, liegen da, als müssten sie noch verarbeitet, ausgeschieden oder umgeschrieben werden - in den Roman, der in den allermeisten Passagen um sie herum schon geschrieben ist. Denn die überwiegenden Texte konfigurieren sich, je weiter man liest, desto mehr, zu Varianten über das, was man rudimentär von Koeppens Leben weiß und aus seinen Romanen kennt. Das folgt nicht der Chronologie, sondern greift vor, kommt darauf zurück, liefert Varianten und Wiederholungen, löst auf und verbindet. So kreisen frühe Texte um Schiffsfahrt auf der Baltischen See - wie von Kafka inspirierte Bruchstücke eines Koeppenschen ›Verschollenen‹. So verdichtet sich die Bohemezeit in Berlin, verschwindet und kehrt in Schüben wieder. Der kurze Aufenthalt am Theater in Würzburg hat sich in erstaunlich vielen Texten niedergeschlagen, das zeitweilige Mitgehen nach Holland bringt eine ganze Reihe von abgeschlossenen Texten hervor - die ominöse Jawang-Gesellschaft nicht zu vergessen. Sie ist gewissermaßen das Meta-Romanfragment zum Romanfragment. Etwas inkohärent, wahrscheinlich am Ende ein ordentlich geschlossener Roman geworden, bleibt so die Fusion von Erlebtem, Gehörtem, Gelesenem und im Kino Gesehenem mit Imagniertem. Die Geschichte eines Adelssprosses, der sich als Leutnant zu einem spielsüchtigen Mitkadetten hingezogen fühlt, für ihn bürgt, Vermögen und Titel verliert und als gemeiner Soldat in die indischen Kolonien geht, wo er sich, kurz bevor das Fragment abbricht, ein kleines Mädchen zuführen läßt, im Anblick ihres nackten Körpers, den er nicht berührt, und des Geruchs von Kokosöl an Baudelaire denkt, wie zuvor an Rimbaud. Er bewegt sich in einer Kino-Exotik, Soerabaja erscheint als "Kino-Kulisse", Whisky wird getrunken, weil das in Romanen so gemacht, wie wiederum der Tod der Eltern in Kinomanier imaginiert wird. Das Orgelspiel in der Kirche, umrahmt von Grüblergesprächen über Kierkegaard, erinnert an "Lichtspielhäuser". Am beeindruckendsten sind die Passagen der Einsamkeit in alledem, lustvolle Verlorengegangenheit, mönchischer Abgeschiedenheit von den Ansprüchen der Welt.

Späterhin kommen Seitenstücke zu Tauben im Gras oder Jugend hinzu, Umschreibeübungen zu Figuren namens Tasso, Prometheus, Fragmente zum in Washington wiederauferstandenen Keetenheuve aus Treibhaus, Reisetexte. Immer wieder die knabenhaften Kindfrauen, die "lieben, mageren Akrobatenarme", "Puppen aus Porzellan", immer wieder Geschichten der Sehnsucht nach unschuldiger Schönheit als Sog in Augenlust, immer wieder die Bestrafung dafür, immer wieder Demütigungen, Pech und Missachtung. Märchen ist ein Text betitelt, in der ein Professor Gelegenheit hätte, aus seinem Hotelfenster heraus den Tyrannen zu erschießen, der gerade zu einem Stapellauf anwesend ist. Er zielt auf ihn mit seinem Regenschirm. In einem späteren Text, der Erinnerung an eine flüchtige Liebesbeziehung, heißt es dann: "Sie war die Frau eines Psychiatrieprofessors in Berlin. Der Professor war Jude. (...) Einmal beobachteten wir den Stapellauf eines Kriegsschiffes. Wir überlegten, wie leicht man den Führer hätte erschießen können." So schreibt der Text sich um und fort.

Den Schlüssel zum Verfahren in alledem liefert vielleicht am ehesten ein Text, der selbst wiederum Kolportage und Konfession verschränkt. Die Wachteln, am Ende der vierziger Jahre geschrieben, handeln von einem Dramatiker, dessen Stück Die Eumeniden einem Kritiker als Beispiel der Neuverkleidung von Antikem, als Ausweis verlorengegangener Erlebnisfähigkeit, dient, worauf der Dramatiker dem Ich-Erzähler die "wahre" Geschichte dahinter, eine wahrhafte Schauergeschichte erzählt, in die Koeppen einmal mehr eigene biografische Motive einarbeitet ...

Was also wäre an dieser Sammlung - Indiz unentwegten Schreibens und Zeugnis gelegentlich gelingender Texte - zu lesen, das mehr als Konfirmation der kleinen Gemeinde wäre? Nun, am Ende vielleicht der so ungeheuerliche wie tröstliche Roman eines, der sich ein verfehltes Leben vollkommen erschrieb. Wir müssen uns Wolfgang Koeppen als glückliche Romanfigur vorstellen.

Wolfgang Koeppen: Auf dem Phantasieross. Prosa aus dem Nachlass. Herausgegeben von Alfred Estermann. Frankfurt am Main, Suhrkamp 2000, 779 S., 64,- DM

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