Reif und lebenssatt ist der Sommer geworden, wer jetzt noch verreist, nicht zuletzt, weil er am fremden Ort endlich zum Lesen kommen will, der sollte ein reifes Werk mitnehmen. Michel de Montaignes Essais zum Beispiel. Mit den drei Bänden, beispielsweise in der frischen Übersetzung von Hans Stilett, wäre man selbst auf Sylt oder in Sils-Maria wie mit einem wirklichen Freund in den Ferien.
Verständlich aber, dass man nicht gleich 1.700 Seiten mitschleppen will. Antoine Compagnons Ein Sommer mit Montaigne ist da ein schlankerer, aber nicht minder anregender, nicht minder freundlicher und freundschaftlicher Begleiter. Denn die aus einer Radioserie hervorgegangenen Texte zu Montaigne und seinen Themen liefern kongeniale Betrachtungen zu dessen Betrachtungen, klug referierend
rachtungen, klug referierend, kommentierend, umspielend und erweiternd. Von der Gesprächskunst zum Freund, von Redlichkeit zur Ungezwungenheit, von Krieg und Frieden zu Scham und Kunst. Ein Genuss, der einen allemal klüger macht. Mit dem man sich erholt, einholt und überholt.In der buridanschen Eselsentscheidung zwischen daheim und weg hilft: ein Garten. Er hat die Vorzüge von beidem. Gegen einen Mangel an realem Garten hilft notfalls ein Gartenbüchlein. Das wiederum hat den Vorteil, dass man kein Unkraut jäten, sich über keine Schnecken grämen, keine Wespen erdulden, nicht Rasen mähen oder sprengen muss. Und doch alles genießt, was da blüht, leuchtet und duftet. Gabriele Tergit hat so ein Gartenbüchlein geschrieben, ein Samentütchen mit Wunderblumen, die ganz ohne alkoholische Befeuchtung im Kopf aufgehen. „Botanik ist eine Wissenschaft für Optimisten oder vielleicht für Pessimisten, die auf diese Weise gezwungen werden, an Fortschritt zu glauben.“Warum, erfährt man in ihrem Büchlein Der glückliche Gärtner. 1958 ist es unter dem ehrlicheren Titel Kaiserkron und Päonien rot zuerst erschienen. Zeitlebens hat die Autorin sich darüber gegrämt, dass ihre wunderbaren Romane nicht den Erfolg hatten wie dieses Büchlein. Wir aber erfreuen uns jetzt wieder daran. Denn diese kleine Kulturgeschichte der Blumen führt uns über den Garten in die Welt und quer durch die Geschichte, erzählt in wohlgebündelten Sträußlein von Rosen und Arbeiterblumen, von Knopfloch- und, ja, auch: Totenblumen, Wappenblumen und Liebesboten, von Orchideen, Chrysanthemen oder der Dahlienwut, aber auch von Vergissmeinnicht, Stiefmütterchen (französisch pensée, von Goethe „Gedenke meiner“ übersetzt, setzte sich aber nicht durch). Oder Veilchen. So lernt man, dass Goethe ein guerilla gardener war, indem er nämlich stets und überall Veilchensamen aussäte, von dem er immer welchen bei sich trug. Wohlsortiert erzählt sie von den Düften, die zu Parfüm destilliert werden.Aber auch von Nahrhaftem, von Eberwurz für die Schweine und Lupinen für unsereinen. Letztgenannte, hört man von angesagten Ernährungsflüsterern, seien das zukünftige Soja der Besserinformierten. Hier jedenfalls erfährt man, dass sie auch Feigbohne geheißen wird und schon eine Lieblingsnahrung der Römer war. Das Schönste aber: Ihr Genuss soll die Fantasie beflügeln, sozusagen auf Reisen schicken.Stichwort Gartenreisen. Zu vier historischen Gärten der Lausitz, teils in Polen, teils in Deutschland gelegen, führt ein Buch, das man in seinen wichtigsten Teilen gar nicht vorstellen kann, weil man noch nach der versiertesten Beschreibung seine verlockenden Bilder sich kaum vorstellen kann. Brody, 1740 vom Grafen Brühl zum damals schönsten Garten der Lausitz umgestaltet, Muskau und Branitz, die beiden Pückler-Parks aus dem 19. Jahrhundert, schließlich der 1913 entstandene Jugendstilpark in Forst, ein einziges Rosenwunder, erlebt man in traumhaften Fotos von Hans Bach. Und Marina Heilmeyer liefert dazu kundig und klar die Geschichte und Charaktere dieser Gärten. Hineinsehen, hinwegsein – und hinfahren!Manche wollen’s weiter weg. Unterwegs, weg von sich. Nach dem Massenmordsuizid des Germanwings-Piloten mag das Unbehagen einen enger bedrücken als die Sitzabstände, aber spätestens bei Fernreisen muss man es zu dämpfen versuchen. Da bietet ein Büchlein zum Fliegen allerbeste Ablenkung, nicht nur zu Hause, sondern gerade unterwegs. Es hat zum einen allerlei Informationen zur Hand, zum anderen beschäftigt es die grauen Zellen in der Fluggastzelle. Zunächst eine gute Nachricht: Noch nie ist ein modernes Flugzeug durch Turbulenzen abgestürzt. (Wohl aber haben Unangeschnallte sich das Genick gebrochen.) Noch eine gute: Regenbögen lassen sich am allerbesten aus dem Flugzeug beobachten. Unentschieden: Da draußen gibt es in Flughöhe Leben – an die 2.000 Bakterienarten. Nicht so gut: Tee wird im Flug nie perfekt, weil das Wasser schon bei 90 Grad kocht. (Draußen allerdings schon bei 53.) Dies und vieles mehr erläutert uns der Experimentalphysiker Brian Clegg.Sein Buch mit dem etwas doofen Titel Warum Tee im Flugzeug nicht schmeckt und Wolken nicht vom Himmel fallen bedeutete im englischen Original schlicht: Bordwissenschaft. Wissenschaft an Bord. Die folgt nämlich dem Flugweg vom Check-in bis zur Landung. Und in jedem Schritt erklärt es in kleinen Portionen Physikalisches, Chemisches, Geografisches, Technisches und so fort. Ganz schlicht und doch immer wieder verblüffend. Das Allermeiste könnte man sogar an Bord nachexperimentieren, reicht garantiert für Hin- und Rückkflug.Apropos Langstrecke. New York ist dank der aberwitzigen Europolitik ja nicht mehr ganz so günstig, aber was schert’s den, der nun einmal davon angefixt worden ist. New-York-Führer gibt es so viele, dass sie, aufeinandergestapelt, wahrscheinlich mindest einen der vermissten Twin Towers ersetzen könnten. Insofern ist die Empfehlung eines davon schon fast frivole Willkür. Indes ist die inzwischen höchst routinierte 111-Orte-Reihe prädestiniert dafür, einen verführerischen Cicerone zu liefern. Schön an diesem ist, dass er abwechslungsreich zwischen Gärten (jede Menge inklusive Parks und guerilla gardening), Häusern, Straßen, Cafés, Museen, Skurilitäten, kurz: Sehens- und Lebenswürdigkeiten, pendelt. Klischeefrei und originell. Und am schönsten: Dies New York ist garantiert berlintouristenfrei!Wie mit dem FernbusFür den nicht-so-fern-reisen-wollenden alteuropäischen Distinktionsurlauber gibt es 111 solcher Orte an der Côte d’Azur. Dr. Thomas Middelhoffs (gehabte) Villa in Saint-Tropez ist so wenig dabei wie die Häfen, in denen die Oligarchenphalli dümpeln. Dafür aber der Parkplatz von Saint-Tropez, der fast 1500 Autos fasst. Überhaupt recht viel Saint-Tropez. Wird aber durch Nizza, Menton und viele kleine Orte wieder ausgewogen. Dass Sainte-Maxime so ganz und gar fehlt, wollte ich erst monieren, habe mich aber eines Besseren besonnen: Dann werden wir uns nämlich nicht in die Quere kommen.Es soll ja außer Neugeborenen und Moribunden wirklich noch Leute geben, die Rom nicht gesehen haben. Also Leute wie mich. Mir ist das alles immer zu überwältigend gewesen. Wenn es mich gelüstete, sah ich mir Fellini und Rossellini an, dann war ich zufrieden. Aber erst das nach ihm benannte Reich! Nun bin ich aber doch zum Rom-Pilger geworden, historisch, im Kopf, in meinem Sessel, als armchair traveller, völlig gefahrenfrei, billig und bequem.Und ich kann allen, die den Rest des Sommers mit einer Zeitreise verbringen wollen, guten Gewissens empfehlen, es mir nachzutun. Der Historiker Greg Woolf hat eine fast 500-seitige Biografie des Weltreichs geschrieben, die vieles davor Verfasste verblassen lässt. So glanzvoll geschrieben wie die Höhepunkte der Geschichte, die es beschreibt. Nur so viel: Er stellt Rom, gegründet auf Gewalt, erhalten durch Gewalt, bedroht durch Gewalt, gewachsen durch Gewalt, am Ende gewaltig abgeschmiert, dar in allen seinen grandiosen und üblen Facetten, zwischen Herrschern als Wohltätern und Wahnsinnigen und freiem und unfreiem Volk und Völkern, wirksam bei alledem als eine Art Integrationsmaschine, die es immer wieder schaffte, die Untertanen als Shareholder zu motivieren (oder illusionieren?). Schande über den, der an die heutigen Reiche von Google, Amazon oder Facebook denkt.Wer in seinem Armsessel ganz ohne Führung reisen will und das zum Preis eines Fernbusschnäppchens, der ist mit der Lizenzausgabe der 102. Auflage (!) von Leiserings Historischem Weltatlas bestens bedient. Da steigt einem wieder der Klassenzimmergeruch in die Nase, und die Erinnerung an die Zeit, als man Flaggen malte, schleicht sich wieder ins Gehirn. Eine doppelte Zeitreise. Kommen Sie gut durch den restlichen Sommer. Und achten Sie auf Ihr Buchgepäck.Placeholder infobox-1
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