Wer nicht an Gott glaubt, fürchtet oft den Teufel wie dieser das Weihwasser. Denn anders als Gott, der sich bedeckt hält, hat der Teufel nahezu überall seine Hand im Spiel. Für diejenigen, deren Gott als IS-Allah aus dem Internet auf sie herabblickt, sind alle anderen ohnehin des Teufels. Unser Teufel aber hat, zeigt der unersetzliche und unermüdliche Kurt Flasch in seinem jüngsten, einmal mehr hochgelehrten, bestens geschriebenen Buch – Der Teufel und seine Engel –, einen ziemlich langen Weg zum Satan, eine relativ überschaubare Hochkarriere und dann ein munteres Nachleben als, je nachdem: Teufelskerl oder armer Teufel. Als Herr der Fliegen, Mephistopheles oder Wilhelm Hauffs Natas, der auf die Frage, wie lange es noch bis zur Ewigkeit daure, tröstet: „Es will Abend werden.“ Flasch, der unlängst klug erklärte, warum er kein Christ sei, interessiert sich naturgemäß eher für Anweg und (vorübergehende) Allmacht. „Wer Europa kennen will, muss Gott und den Teufel erkunden. Beide haben dort lange geherrscht.“ Anders als landläufig angenommen, ist der Teufel im Alten Testament, trotz der schlängelnden Verführung aus dem Paradies, zunächst noch eine Randfigur. Der Teufel, der das Abendland später so vexierte, mendelt sich erst mit den Apokryphen des AT heraus, um dann im NT groß rauszukommen. Alles, was theologisch denken konnte, widmete sich fortan seiner Evaluation, so fixiert und so spitzfindig, dass Gott, müsste er darüber nicht erhaben sein, vor Neid erblasste. Man ergründete seinen mutmaßlichen Körper (erst Luft, dann Geist), dessen Verwandlungsfähigkeit und Auslagerungen (Kröten, Schlangen, Drachen, Schweine, um nur ein paar zu nennen) und teuflische Tätigkeiten: Verführen und Verderben, am liebsten aber Buhlen und Hineinfahren. Klug wie die Kirchenväter spitzfindig, geht Flasch dem nach, in der Hoffnung, ihn – wie Gott – endlich exorzieren zu können. Der Erfolg bleibt bezweifelbar. Denn zwar ist der totale Gott ein Langweiler, aber der diversifizierte Teufel unterhält immerhin bestens.
Eine Erfindung muss er sein, ein Gott, der nicht angebetet wird, denn: „Den wirklichen Gott erkennt man an seinem Dienst.“ Was Friedrich Hielscher gegen die völkische Konstruktion der Göttin Ostara schrieb, lässt sich auch Stufen tiefer wiederholen, zum Beispiel bei Weltanschauungslieferanten, Religionsstiftern und dergleichen. Ohne Gemeinde sind sie Schall und Rauch. Friedrich Hielscher (1902–1990) ist so ein Fall, auch einer für sich. Nationalrevolutionär, Widerständler, Heidenpriester, wie der Untertitel seiner Biografie ihn charakterisiert, Korrespondenz- und Gesprächspartner so unterschiedlicher Figuren wie Theodor Heuss und Ernst Jünger, Martin Buber und Alfred Kantorowicz, inspiriert von August Winnig wie von Oswald Spengler. Einer der nicht wenigen seinerzeit einflussreichen Mediatoren der Zeittendenzen, eine Verbindungs-, Beschleunigungs- und Verstärkungsfigur, ist er hinter denen, denen er nützte, verblasst und schließlich verschwunden. Ernst Jünger sagte zu Zeiten der Weimarer Republik über ihn: „Ich halte ihn für den schärfsten Kopf unter den Nationalisten, freilich bizarr.“ Hielscher verkehre zudem mit Chinesen, Zionisten und Arabern gleichermaßen. Germanoschwurbulös herumspekulierend, aber scharfsinniger antivölkischer, antinazistischer Neuheidenapostel. (In den 80er Jahren hatte seine Unabhängige Freikirche nicht einmal mehr 20 Mitglieder.) Der Politikwissenschaftler Kurt M. Lehner hat dieser Figur eine Biografie gewidmet, die bei aller Detailliertheit die großen Züge nicht aus den Augen verliert und ein Zeitbild von den 20ern bis in die 80er entwirft. Nicht zuletzt kann man von hier aus unsere zeitgenössischen Pendants schärfer sehen.
Der Historiker hat ein anderes Verhältnis zur Zeit als der Philosoph. Glücklicherweise. Anders als Rüdiger Safranskis Buch über die Zeit ist dies hier kein hochfahrender Prätentionsautomat, sondern vom Taktgefühl geprägt, die Lesenden nicht spüren zu lassen, wie viel Zeit die Beschäftigung mit der Zeit gekostet hat. Alexander Demandt hat nicht nur diesen, sondern auch einen eigenen Zeittakt. Was den Griechen als Chronos floss, ist in fast allen weiteren Sprachen, ob als Zeit oder Tempus, auf dem Einteilen basiert. Der Althistoriker unterteilt seine 14 Kapitel jeweils in überschaubare drei- bis fünfminütige Lesezeitportionen, die allerdings oft erheblich mehr an Denk- und Rekapitulationszeit zeitigen. Er durchmustert die „Geschichte der Zeitkultur“ zwischen Augenblick und Ewigkeit, Uhr und Kalender, Jahres- und Lebenszeit, Ären, Epochen und Perioden. Und man findet darin im Grunde alles – notfalls übers gut gepolsterte Register. Selbst das, was man nicht suchte, beispielsweise woher Halloween kommt und wann und wo Weihnachten der Jahresanfang war. Das alles ist von enzyklopädischer Weite und Dichte zugleich, die Fakten und Zahlen sind immer wieder gewürzt mit lakonischen Pointen. Ein Buch zum Schmökern, Stöbern, Nachschlagen. Da schlägt man keine Zeit tot, sondern wappnet sich für die sieben ptolemäischen Lebensalter.
Das Alter beschleicht uns schweigend, sagte Ovid. Was, wenn die Aufklärung in selbstgefälliger Mutlosigkeit altert und die Eule der Minerva nicht mal mehr Bock hat, in der Dämmerung zu fliegen? Dann holt man sich neuen Schwung aus der Kindheit und Jugend der Aufklärung. Freilich kein leichtes Unterfangen, ist doch ihre Provenienz mehr als obskur. Ausgang aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit, Kants knackiger Werbespruch, hieß im Alltag zuerst Entdeckung von Unmündigkeiten. Je tugendvoller die Entwürfe guter Gesellschaft waren, desto deutlicher wurde, dass die Menschen mitnichten so sind und sein wollen. Um alles muss der Aufklärer sich kümmern, um Diätetik und Umwelt, Politik und Ökonomie, Gesundheit und Wohlverhalten, Glauben und Unglauben. Überbietung, Neuerung und Neugier sind aber nicht ungefährlich. Das Mitreden und -schreiben der Untertanen ist Integration in Verantwortlichkeiten und Placebo zugleich. Die Schwarmintelligenz der Schwärmer erzeugt vor allem eins: produktive Unzufriedenheit. Treffender ist die damalige Formel „rege Ruhe“. So gegenwärtig, so von der Gegenwart aus und als ihr Spiegelkabinett, hat man über das Zeitalter der Aufklärung noch nicht gelesen. Steffen Martus lässt es im 17. Jahrhundert beginnen und mit dem ausgehenden 18. enden. Da geht es um Politiken, Strategien, Alleinstellungsmerkmale oder Branding. Immer wieder wird uns die Janusköpfigkeit von Personen, Projekten und Institutionen vor Augen gestellt. Ambivalenzen, Widersprüche, Umkehreffekte. Entlang an städtischen Zentren wie Halle, Leipzig, Hamburg et cetera werden wir durch die gesamte Spannweite der Zeit, ihre Ideen und Realien geführt. Unterschwellig wird das von Leit- und Wunschbegriffen jener Zeit getragen – Gleichgewicht, Mitte, Ruhe und Zirkulation, Unruhe oder Gründlichkeit. Voller Überraschungen selbst beim Vorhersehbaren, Seiten- wie Überblicke, plastisch und stringent. Klug sowieso, erhellend und einleuchtend. Obendrein aber in einer luziden, geschmeidigen Sprache, vor der jeder pfeifenbedampfte Großbiograf verzwergt. Um das Klischee an seine gelegentliche Richtigkeit zu erinnern: spannender als jeder Roman! Eine Sternstunde, die Epoche machen wird.
Als Zeittakt dauert die Gegenwart circa drei Sekunden. Beim Zeithistoriker Andreas Rödder dauert sie aber – unter generösen Rückgriffen auf Zeiten davor – von 1990 bis jüngst und ist fast 500 eng bedruckte Seiten lang. „Der historischen Erfahrung nach wird die Zukunft in doppeltem Sinne anders sein: anders als die Gegenwart und anders als gedacht.“ Dieser tröstlichen (Un-)Gewissheit am Ende einer grand tour d’horizon wird man auch zukünftig kaum widersprechen wollen. Und wir sollen „die Chancen des Unvorhergesehenen“ nutzen. Auch das geht in Ordnung, wenngleich das Unvorhergesehene unmittelbar nach dem Redaktionsschluss für dieses Buch kam: Flüchtlinge in der EU, heißt es hier noch, machen „nur ein Rinnsal der weltweiten Flüchtlingsströme aus“. Nun machen sie dem schaffend-geschafften Deutschland die kalten Füße nass. Überhaupt Deutschland, dieser Perspektivpunkt von Rödders Geschichte der Gegenwart: Mal „unter Druck“, mal führungsstark. In der Schere von an Europa abgetretener Souveränität und staatsverschuldeter Unmündigkeit gegenüber der globalen Finanzwirtschaft. Modell oder Problem? Dazwischen ziemlich beschäftigt, vor allem mit sich. Zwischen Energiewende und Inklusion, Geburtenrückgang und Schuldengriechen. Wohlstrukturiert nach Staat, Politik, Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur, findet man hier verdichtet und verknappt alles das wieder, was man zeitbegleitend auch im Wirtschafts- und Politikteil der FAZ hätte lesen können. Ein veritabler Arbeitsspeicher fürs geplagte Kurzzeitgedächtnis!
Mit dem guten Zusammenleben klappt es ja gegenwärtig selbst nach Ansicht notorischer Optimisten nicht so recht. Ein schöner Trost also, wenn Tiere und Pflanzen uns vormachen, wie es besser gehen kann. Oder machen wir uns damit was vor? Die einschlägigen Erkundungen des Potsdamer Biologen Ewald Weber jedenfalls sind von jenem kundigen Enthusiasmus, bei dem man schnell nach dem höheren Sinn und tieferen Nutzen zu fragen vergisst, einfach weil’s unterhalt- und wundersam zugleich ist. Zumal er mit einem bunten Sammelsurium an Geschichtchen, Kuriositäten, gelegentlich auch Bekanntlichkeiten die selbstzweckende Neugier befriedigt. Natürlich soll in der so erzählten Natur ein höherer Sinn sein, nämlich – wie bei jeder Natursendung im TV – der Erhalt von Vielfalt. Sei’s drum. Man nimmt die verdaulich portionierten Häppchen gern: Anemonenfische, die in Symbiose mit ihrer Pflanzenumgebung leben, mitessende Seepocken, Pilze und Algen, die sich zu Flechten zusammentun, die bestäubenden Klassiker Hummel und Biene, Ameisen als Schutztruppen, Tarner und Täuscher wie die Wandelnden Blätter oder der Fetzenfisch und vieles mehr. Wildtierbrücken und derlei Rücksichtsvolles kommen auch drin vor. Man kann’s darum zwar auch zur Andacht nutzen, aber interessant wird es unterm Gesichtspunkt von Kommunikation: So viele Formen, solch eine Vielfalt der Verständigung! Wie sollten wir da unverständig bleiben wollen?
Info
Der Teufel und seine Engel. Die neue Biographie Kurt Flasch C. H. Beck 2015, 26,95 €
Friedrich Hielscher. Nationalrevolutionär, Widerständler, Heidenpriester Kurt M. Lehner Ferdinand Schöningh 2015, 29,90 €
Zeit. Eine Kulturgeschichte Alexander Demandt Propyläen 2015, 26 €
Aufklärung. Das deutsche 18. Jahrhundert. Ein Epochenbild Steffen Martus Rowohlt 2015, 39,95 €
21.0 - Eine kurze Geschichte der Gegenwart Andreas Rödder C. H. Beck 2015, 24,95 €
Der Fisch, der lieber eine Alge wäre. Das erstaunliche Zusammenleben von Tieren und Pflanzen Ewald Weber C. H. Beck 2015, 19,95 €
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