Treue zum Knötterknorz

Sachlich richtig Erhard Schütz sieht des Elends viel. Doch er findet geistige Stärkung zwischen Barfeld und Havanna
Ausgabe 08/2019
Teilnehmer*innen einer Demonstration für die Rechte von Schwulen und Lesben in Santo Domingo
Teilnehmer*innen einer Demonstration für die Rechte von Schwulen und Lesben in Santo Domingo

Foto: Erika Santelices/AFP/Getty Images

Arno Schmidt zuerst. Und Hartwig Suhrbier, einer der fünfe, die 1970 das Arno-Schmidt-Dechiffrier-Syndikat gründeten, der Erste wohl, der eine Magisterarbeit über den Heide-Eremiten schrieb. Einer, der seither wissenschaftlich, im Rundfunk und in der Presse dem großen Knötterknorz treu blieb. Seit 50 Jahren. Da, was er aus dieser langen Leidenschaft zusammengestellt hat – persönliche Erinnerungen, kleine, zeitlos kluge Beiträge, ein langes Gespräch mit Ernst Krawehl, dem Verleger und Lektor Schmidts –, eher abseits gelegen erschienen ist, sei es hier dringlich avisiert: ein profundes Zeugnis tätiger Liebe zu Literatur und Literat.

Nicht nur arme Leute sind in der Gesundheitsindustrie arm dran. Contergan, Duogynon, gefälschte Brustimplantate, dubiose Transplantationen, untaugliche Hüftgelenke, falsche Strahlentherapien, Viren in Bluter-Präparaten, Doping, illegale Tests an Heimkindern, Hochstapler, mordendes Personal – alles, was neben den Betroffenen die Medien, die Politik, die medizinischen Institutionen beschäftigte, erschütterte. Die Skandale erregt noch einmal skandalisieren? Eckart Roloff und Karin Henke-Wendt entgehen dem, indem sie den Blick auf die Akteure wach halten: Wer alarmierte, wer verschwieg oder vertuschte? Welche Konsequenzen wurden gezogen? Warum wurde weiter ignoriert? Neben einer Phänomenologie des Skandals bekommt man einen Lehrgang über das systemische Spiel der Institutionen.

Marko Martin muss man hier nicht vorstellen. Sein neues Buch aber schon. Denn es ist ein Antidot gegen die Depression, die einen angesichts mancher hier vorgestellter Themen befallen könnte. Dabei ist es hinreichend in Armut und Elend, in Unrecht und Verfolgung unterwegs. Aber sein „Rapport“ aus Kuba ist in Beobachtungen, Einfällen, Reflexionen und Stil so abwechslungsreich, so lustvoll und geschmeidig, dass man weder die Frage nach Treu und Glauben noch die nach dem Genre stellt. Das ist einfach Marko Martin. Ob Martin die Begegnung mit einem kubanischen Anti-Transphobie-Aktivisten unter New Yorker Judith-Butler-Adepten in der amerikanischen Botschaft schildert, indem er die Phraseologie zwischen EU-kompatibler Gender-Korrektheit und „harmonisch aufstrebendem Cuba“ ausstellt, ob er sich über die Abhängigkeit von den Geldüberweisungen der Exilierten erzählen lässt, ob er selbst sich ins schwule Nachtleben stürzt, ob es scheinbar bloß um eine überm Hintern zerplatzte Hose geht oder um die allfälligen Auto-Antiquitäten – es ist dies alles so mit allen Sinnen, so schutzlos hingegeben und zugleich so klug reflektierend geschrieben, dass es ein wahres Vergnügen ist. Und es erscheint auch passgenau zum 60. Jahrestag der Revolution am 1. Januar 2019.

William T. Vollmann ist ein beeindruckend produktiver Autor von Romanen und Reportagen, hochgepriesen. Als Kriegsberichterstatter unterwegs oder auf den Spuren des Klimawandels. Oder weltweit unter den Armen, wie in dem im Original 2007 erschienenen Band Arme Leute, der jetzt erst auf Deutsch zu haben ist. Ob Jemen, Thailand, Kenia, Bosnien, die USA oder Mexiko, ob Fischer oder Fahrer, Prostituierte oder Alkoholiker, er fragt: Warum bist du arm? Und bezahlt sie für die Antworten. Die fallen naturgemäß sehr unterschiedlich aus, zwischen Selbstanklagen und Gesellschaftsbezichtigung. Immer aber, jedes einzelne, ebenso beeindruckende wie bedrückende Schicksal. Vollmann nennt das einen „aufrichtigen Versuch, mir einen Reim auf Phänomene zu machen“. Unterm Eindruck der neuen Spiegel-Affäre um Claas Relotius liest man das zwangsläufig nicht mehr so vertrauensvoll wie zuvor. Aber man wird Vollmann wohl glauben können, denn seine Reportagen bedienen keine erwartbaren Klischees, und Vollmann selbst zeigt sich immer wieder hilflos und unberaten.

Bürgerschaftliches Engagement ist populär. In Medien und in Politikerreden. Aber auch faktisch. 30 Millionen Menschen in Deutschland engagieren sich ehrenamtlich. Freilich über ein Drittel davon beim Sport, also eher im Eigeninteresse. Migrantenhilfe, Bedürftigenspeisung und Obdachlosenfürsorge stehen bei Claudia Pinl im Zentrum. Denn sosehr sie für die Demokratie und die Stärkung des sozialen Zusammenhalts zu begrüßen sind, so sind sie doch insofern janusköpfig, als der Staat dieses freiwillige Engagement fest einkalkuliert. Vor allem die Kommunen, die am meisten unter sozialpolitischen Entscheidungen leiden, sind auf Stadtteilmütter, Quartierlotsen, Lese- und Grünflächenpaten angewiesen. Wo „Bedarfe“ entstehen, dockt Kapitalisierung an. Agenturen und Stiftungen als Geschäftsmodell. Sie lassen es sich honorieren, Freiwillige zu motivieren. Firmen sammeln symbolisches Kapital. Pinl insistiert auf den Pflichten des Sozialstaats, manchmal lamentös gegen den „Ehrenamtshype“, aber höchst informativ.

Info

Über Arno Schmidt & einige seiner Werke. Ausgewählte Beiträge aus 50 Jahren Hartwig Suhrbier BS-Verlag-Rostock 2018, 135 S., 10 €

Geschädigt statt geheilt. Große deutsche Medizin- und Pharmaskandale Eckart Roloff, Karin Henke-Wendt Hirzel 2018, 256 S., 22 €

Das Haus in Habana. Ein Rapport Marko Martin Wehrhahn 2018, 256 S., 20 €

Arme Leute. Reportagen William T. Vollmann Suhrkamp 2018, 448 S., 22 €

Ein Cappuccino für die Armen. Kritik der Spenden- und Ehrenamtsökonomie Claudia Pinl PapyRossa 2018, 159 S., 12,90 €

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