Trost der Literatur

Tragikomödie des Menschlichen Ian Mc Ewans Roman "Abbitte"

Um mich gleich eingangs durch eine Konfession bloßzustellen: Das ist, bekräftigt durch seine kongeniale Übersetzung, für mich der schönste, der romanhafteste aller Romane der letzten Jahre. Abbitte beginnt scheinbar als Familienroman und endet mit dem Schein der Romanfamilie. Er beginnt an einem schwülen Sommertag in den Dreißiger Jahren, kurz vor Beginn des 2. Weltkrieges. "Mit einem Geräusch, als bräche ein trockner Ast, splitterte ein Teil vom Vasenrand ab und zerbrach in zwei dreieckige Stücke, die aus seiner Hand ins Wasser fielen und synchron in Zickzackschwüngen zu Boden sanken, wo sie sich in einigen Zentimetern Abstand im gebrochenen Licht zu krümmen schienen." Ein Liebeskampf. Robbie, zu Gast auf dem Anwesen der Eltern seiner Jugendfreundin und großen Liebe, will der angebeteten Cecilia beim Füllen einer uralten, hoch geschichtsbelasteten Vase helfen. Sie duldet es nicht. Der Rand der Vase zerbricht. Beobachtet wird die Szene zwischen den Zwanzigjährigen von der dreizehnjährigen Briony, der die "frostigen" Erfahrungen des Erwachsenwerdens noch bevorstehen, altklug und mit überbordender Phantasie begabt. Sie ist sich gewiss, sie ist eine Schriftstellerin. Briony aber sieht nicht die Scherben, sondern nur, wie sich ihre Schwester bis auf die Unterwäsche auszieht, um in den Brunnen zu steigen. Die Pubertierende, auf ihre Weise in Liebeskämpfe verstrickt, missdeutet die Szene ebenso wie wenig später die weit eindeutigere der wilden Vereinigung der beiden Liebeskämpfenden in der Bibliothek. Überhaupt wird hier - und nicht nur von Briony - ständig beobachtet und ständig missdeutet. Meist mit eher burlesken Folgen, so, wenn aus Bratkartoffeln unbedingt ein Kartoffelsalat gemacht werden muss. Soweit könnte man sich im Remake eines jener ausladenden Familienromane von Jane Austen befinden, auf die der Roman im Motto sich beruft. Oder in einem Seitenstück zu Evelyn Waughs Wiedersehen mit Brideshead. Englische Landsitz-Nostalgie, Familiengeheimnisse, mal mehr lächerliche, mal mehr dramatische Ereignisse.

Tatsächlich zieht einen der Roman zunächst in kalkulierter Missverständlichkeit in eine solche Atmosphäre. Nun ist man beim Namen des Autors, den man wegen der exaltierten, kalt-grellen Effekte seiner früheren Romane gelegentlich als Ian McAber tituliert hat, vorgewarnt. Aber der Effekt will sich nicht einstellen. Selbst da nicht, wo - effektvoll genug - Briony in einer Art verquerem Liebesverrat Robbie wider besseres Wissen als Vergewaltiger der Cousine denunziert und so das Leben aller Beteiligten grausam verändert. Auch das eigene. Das wird, wie ihre Arbeit als erfolgreiche Schriftstellerin, die sie werden wird, im Zeichen der Abbitte für ihre böse Handlung stehen.

Zunächst aber werden wir aus dieser am Ende geplatzten Landhaus-Familien-Welt nach Frankreich versprengt, in den Rückzug der Engländer nach Dünkirchen. Eine grausam-groteske Strecke, die man da mit Robbie zurückzulegen hat, nur, um dann in das Gegenstück in der Heimat zu geraten, in den harten Alltag von Cecilia und Briony als Krankenschwestern. Und darauf, nahezu an unsere unmittelbare Gegenwart gerückt, erfolgt die letzte Phase der ›Abbitte‹, die (Rück)Wendung in Literatur. In den Zickzackbewegungen des Romans, nicht unähnlich denen der im Wasser versinkenden Scherben, in seinen trügerischen Spiegelungen, entsteht so gleich von Anfang an etwas, das man nicht anders denn als große Literatur bezeichnen kann. Schwerlich wird man einen anderen Roman finden, in dem aus so kühler Beobachtung und präziser Beschreibung eine derart warmherzige Zuneigung zu den Personen darin entsteht, aus der Schilderung menschlicher Unzulänglichkeit, aus Missverstehen, Rachsucht und Krieg, die Tragikomödie des Menschlichen. Doch damit nicht genug. Der Roman handelt nicht nur von der Abbitte einer fürchterlichen Tat, für die Briony sich Buße auferlegen, für die es aber keine Wiedergutmachung geben kann. Der Roman ist selbst jene Abbitte - wie sich zeigen und wie darin auf noch einmal grandiose Weise gezeigt werden wird.

Ganz und gar eingearbeitet, nicht als postmodernes Spiel artistischer Fähigkeiten, sondern als integraler Bestandteil dieser, unserer Romanwelt, unabtrennbar, erzählt der Roman seine eigenen Bedingungen. Derart wird der Roman schließlich zur genuinen Tröstung der Literatur, der, dass alles gut, an ein gutes Ende kommen werde. Dieses furchtbare, durch nichts in der Welt gerechtfertigte Vertrauen, dass es weitergehen und am Ende gut ausgehen möge, ist es ja, das uns in der wirklichen wie der erfundenen Wirklichkeit so fatal ständig weiterträumen und fehlen lässt. Dieses, unser ständiges Missverstehen. Damit endet der Roman, der in geradezu makelloser Virtuosität von der Ökonomie des Aufbaus bis zur weitgespannten, stets unaufdringlichen Verknüpfung der Motive und Bilder alles beherrscht, was einen guten Roman ausmachen soll, zugleich als noch mehr, nämlich als Abbitte für die Handlungen der Literatur überhaupt, die, indem sie sie vorführt, zugleich sie fortschreibt und bekräftigt: unsere romanhaften Ideen von der Welt.

Ian McEwan: Abbitte. Roman. Aus dem Englischen von Bernhard Robben, Diogenes, Zürich 2002, 535 Seiten, 24, 90 EUR

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