Unaufmerksamkeitskompensationen

TASCHENBÜCHER Täuschende Wörter

Dass Freitag nicht von Freiheit oder Freizeit stammt, das denkt man sich ja - sind es doch zu kostbare Güter als dass man sie wöchentlich haben könnte. Nein, Freitag kommt von der Germanengöttin Freia = Geliebte. Freitag als Freier-Tag. Keine schlechte Perspektive! Oder nehmen wir unsere Lieblingstätigkeit: kritteln. Nein, kommt nicht von Kritik, sondern von gritteln: zanken, unzufrieden sein, mäkeln. Ist doch viel treffender, oder? Sowas findet man in einem Bändchen über Täuschende Wörter, das neben Bildungs- auch Freizeitwert, während der Arbeit zum Beispiel, besitzt. Da fragt man ganz beiläufig vom Schreibtisch aufblickend den Kollegen, ob das, worauf er sitzt und das, was links und rechts der Nase eingefallen oder pausig ist, identisch sei. Au Backe, schon kann man ihn verschlaumeiern. Und gleich nachsetzen, indem man die Kollegin nach dem Weichbild fragt. Auch der Maulwurf kommt in diesem unterhaltsamen Bändchen vor. Der ist bekanntlich das Wappentier von Odo Marquard, der - wie jener unter seinem Haufen - unter seiner Theorie der Kompensation sitzt und wartet, bis ein Thema vorbeikommt, das er kompensieren kann. Und da wir, wie er lehrt, von Anfang an mehr unsere Wiederholungen als unsere Veränderungen sind, ist auch sein jüngstes Bändchen wiederholsam. Thesen, Beispiele und Folgerungen kehren in schönem, einprägsamem Gleichmaß wieder. Der Mensch, sagt die Philosophie des Stattdessen, ist ein »homo compensator«. Er tut alles mögliche statt dessen, was ihn daran hindert, noch mehr Mist zu machen als ohnehin. Darum ist es gut, wenn er zum Beispiel, statt Menschen zu ihrem Glück einzumauern, ihnen etwas erzählt. »Wer auf das Erzählen verzichtet, verzichtet auf seine Geschichten; wer auf seine Geschichten verzichtet, verzichtet auf sich selber.» Man kann Marquards kleine Denktröstungen zur Apologie der Bürgerlichkeit, zur Zukunft, die Herkunft braucht, oder zur Entlastung vom Absoluten, auch dann gerne lesen, wenn man ihm nicht zustimmen möchte. Sie machen allemal ein bisschen nachdenklicher, zumal man das preiswerte Brevier statt der allfälligen Hilfs- und Trostbüchlein lesen kann, die einem die Zeit und das Geld nehmen, die sie einzusparen versprechen.

Ein Buch, das sparsam mit den finanziellen Ressourcen des Lesers umgeht, indem es ihm kräftiges Material für ein mittleres Selbststudium spendiert, trägt den Titel Perspektiven metropolitaner Kultur. Dabei geht es hier nicht nur um Stadt-Kultur, auch wenn es einmal mehr großräumige Abschiede oder Schwurbulöses zu Jetztzeitweisen in der ortlosen Stadt gibt. Darüber hinaus findet man eine Reihe bewährter Denkanstößer, die unbeschadet ihrer Prominenz etwas zu sagen haben - Sennett, Baudrillard, Lyotard, Groys oder Butor. Vor allem Georg Francks Meisterstreich zur Ökonomie der Aufmerksamkeit: Wie nämlich die knappe Ressource Aufmerksamkeit privates, soziales und mediales Leben strukturiert.

Ach, könnte der Kolumnist doch die lesende Aufmerksamkeit lenken wie einen Scheinwerfer! Dann tauchte er die folgenden Bücher ins wärmste und hellste Licht: Hinter den sieben Bergen, Best-of-Dieckmann, Reportagen aus dem Befindlichkeitsgebiet. (Zum Sampler gibt's einen Bonus-Track: Sex, Krankenwärter, letzter Platz.) Wer seine Sommerferien auf S-Bahn anlautet, muss einfach zugreifen. Für Prä-, Para- oder Post-Badeaufenthalte hingegen, vom Aufmerksamkeitsscheinwerfer tief durchsonnt, empfehlen wir: Sündenfälle. Da es sich um Texte des Berliner Feuilleton-Grandseigneurs Viktor Auburtin handelt, von seinem Professionsenkel Heinz Knobloch sympathetisch ausgewählt und kundig kommentiert, sind sie von vornehmer Sprachzucht, mithin eine Leselust. Gehen wir noch einen Schritt zurück, dann bekommen wir Fontanes Von, vor und nach der Reise in den Kegel, über dessen Plaudereien man Reisen wie Dableiben gleichermaßen vergisst.

Nach so viel milder Abendsonne müssen wir nun aber noch die grellen Blitze zucken lassen. Stroboskop also auf Jörg Juretzka, der seinem auf Anhieb preisgekrönten Erstling nun einen zweiten Krimi folgen läßt, der in Deutschlands konkurrenzlos wahrer Metropolitanität spielt, im Ruhrgebiet - und das heißt: ordentlich auf der Autobahn. Um was es geht? Toter Spielautomatenkönig. Ist aber nicht wichtig, weil's sowieso mehr um das Wie geht - und das ist routiniert sarkastisch. Am Ende ist man nicht schlauer, aber solide unterhalten worden. Da ist, im Blitzlichtgewitter, natürlich Eduards Heimkehr von ganz anderem Kaliber. Stammt der Roman doch von Peter Schneider, der im Strampeln um die dichteste Roman-Komprimierung von Presseschlagzeilen und - kommentaren das gelbe Trikot hält. Wenn das den großen Berlin-Roman ausmacht, dann hat Martin Lüdke recht, der vom Klappentext herunterjubiliert: »hier ist er«. Wenn nicht, dann ist's immerhin die Ersparnis von vielen Jahrgängen Spiegel unter kompensatorischer Verausgabung von Lesergutwilligkeit, was einem mit der Geschichte von Eduard widerfährt, der aus Kalifornien nach Berlin zurückkommt, wo er in der ehedem Hauptstadt der DDR ein baufälliges Haus geerbt hat, was seine solide Westssensibilität mit allerlei wendefolgender Ostschaft verbal kontorsionieren läßt, wobei schon mal beim »sanften Absinken und Aufsetzen des Körperschiffs nach dem Rauschflug» die Metaphernmaschine havariert, aber insgesamt doch unermüdlich an- und angedacht wird. Voll metropolitan in den Westgrenzen von vor 89! Richtig schön wird's drum, wenn man stattdessen - s. o.

Heike Olschansky: Täuschende Wörter. Kleines Lexikon der Volksetymologien, Reclam Stuttgart 18023, 12 DM

Odo Marquard: Philosophie des Stattdessen. Studien, Reclam Stuttgart 18049, 7 DM

Perspektiven metropolitaner Kultur, Edition Suhrkamp 2075, 22,80 DM

Christoph Dieckmann: Hinter den sieben Bergen. Geschichten aus der deutschen Murkelei, dtv 36176, 19,50 DM

Viktor Auburtin: Sündenfälle. Feuilletons, Aufbau Bibliothek 6061, 18 DM

Theodor Fontane: Von, vor und nach der Reise. Plaudereien und kleine Geschichten, Aufbau Taschenbuch 5278, 12,80 DM

Jörg Juretzka: Sense, Rotbuch 1109, 18, 90 DM

Peter Schneider: Eduards Heimkehr. Roman, rororo 22187, 16, 90 DM

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