Völkische Lebenswelt

Literatur Professor Schütz liest sich in rechtsextremes Denken und Handeln ein
Ausgabe 42/2019
Gisela Friedrichsen, fürs Gerichtliche nacheinander bei der FAZ, dem Spiegel und der Welt zuständig, hat den Prozess gegen den sogenannten NSU zu einem Buch zusammengefasst
Gisela Friedrichsen, fürs Gerichtliche nacheinander bei der FAZ, dem Spiegel und der Welt zuständig, hat den Prozess gegen den sogenannten NSU zu einem Buch zusammengefasst

Foto: Joerg Koch/Getty Images

Beginnen wir mit Heiterem. Am 17. Mai 1924, am Vorabend des 41. Geburtstages von Walter Gropius, feiern die Bauhäusler ein Fest, auf dessen Höhepunkt Gropius eine Meistermappe überreicht bekommt, mit Arbeiten von Paul Klee, Wassily Kandinsky, Oskar Schlemmer, Lyonel Feininger, Georg Muche und László Moholy-Nagy. Obenauf ein Ausschnitt aus der Vossischen Zeitung vom 11. Mai. Er zeigt das Foto einer Menschenmenge, von einem Fenster aus, in dem ein Rundfunkapparat steht: Verkündung der Ergebnisse der Reichstagswahl. Die Herren Kollegen haben je eine interpretierende Variation des Fotos angefertigt. Aus bauhäuslichem Jubelanlass haben Kommunikationswissenschaftler, man kann sagen: ebenso Meister ihres Fachs, sich dieser Mappe angenommen und sie nach allen Regeln ihrer Wissenschaft interpretiert. Sie reflektieren, sorgfältig illustriert, jedes Blatt im Zusammenhang mit dem jeweiligen künstlerischen Werk, stellen es dann ausführlich in exemplarische Kontexte der damaligen Zeitläufte und exemplifizieren jeweils einen Grundbegriff der Theorie öffentlicher Kommunikation. Etwa Wechsel von Leitmedien, Kommunikatoren oder Dynamiken öffentlicher Kommunikation. Das ist klar geschrieben und bietet einen originellen, anregenden neuen Blick auf Kunst-, Gesellschafts- und Kommunikationsgeschichte.

1924 war die SA gerade wieder dabei, sich nach dem gescheiterten Hitler-Putsch als das zu etablieren, was ihren verruchten Ruf bis heute ausmacht: Terrortruppe gegen Juden und politische Gegner in den Sälen und auf der Straße. Das Buch des in Newcastle lehrenden Daniel Siemens ist 2017 auf Englisch und nun auf Deutsch erschienen, wobei die von der amerikanischen Kritik monierte teutonische Substantivierung nicht mehr ins Gewicht fällt. Das Buch ist gut lesbar und sehr lesenswert, ist ein in seiner illustrativen Differenzierung gelungenes Unternehmen, teilweise gegen die reichliche Forschung die Gesamtgeschichte der SA zu erzählen. Das Wichtigste ist die plausible Umbewertung der Rolle der SA nach 1934, nach der „Nacht der langen Messer“, der Ermordung führender Köpfe durch die SS in angeblicher Abwehr eines „Röhm-Putsches“. Bis dato galt, dass danach die SA gezähmt, einflusslos wurde. Siemens zeigt, wie nach den Phasen des Aufstiegs – paramilitärischer Wehrverband, Krise nach dem gescheiterten Hitler-Putsch, Neuformierung als Schlägertruppe – und der Dekapitation 1934 bei einem verbliebenen Mitgliederstand von vier Millionen – spätestens ab 1937 die SA wieder ein wichtiges Spektrum an Aufgaben im Alltag der „Volksgenossen“ übernahm: sozial integrierte Durchdringung der ländlichen und vor allem Grenzräume, eine Mischung aus bürgerlicher Teilhabe und gewalttätiger Ordnungsmacht, dann die gesamte paramilitärische Ausbildung der Jugend, Hilfspolizeifunktionen an der „Heimatfront“, schließlich die Vorbereitung der Judenvernichtung in den besetzten Gebieten. Die böse Pointe: Wegen der Annahme ihrer zwar Gewalttätigkeit, aber politischen Marginalisierung seit 1934 wurden die ja keineswegs nur aus proletigem Schlägermilieu stammenden SA-Führer nach 1945 gern als „fehlgeleitete Idealisten“ rehabilitiert und schnell im bundesdeutschen Aufstieg integriert.

Die sogenannte Volksgemeinschaft, die prügelte, sich prügeln ließ und beim Prügeln zusah. Michael Wildt, renommierter NS-Forscher an der Humboldt-Universität zu Berlin, hat seine Aufsätze der vergangenen Jahre unterm Aspekt von Volk und Volksgemeinschaft zusammengestellt, die Rolle von Antisemitismus und Arbeit für Ausgrenzung und Kitt ebenso untersucht wie die politische Theorie des Volksbegriffs oder die Rechtssituation der Volksgenossen. Auch wenn man seine Gegenbeschwörung von „realer Demokratie“ im Namen Ernst Blochs als „Heimat“ für allzu wunschgläubig ansehen mag, so ist richtig, dass man vom Volksbegriff Finger und Lippen lassen sollte, weil ihm das Völkische nicht mehr auszutreiben ist.

In Jörg Uwe Albigs großartigen Roman Zornfried geht es zu einer völkischen Selbstversorger-Sippe auf einer ranzigen Burg im Spessart. Einige Kritiker fühlten sich ans Herrscherlein über Schnellroda erinnert. Doch keineswegs nur der kommt im richtigen Leben dafür in Frage, vielmehr zeigt ein offenbar intensiv recherchierter Band: Völkische sind fast überall – jedenfalls dort besonders gern, wo das Land von Flucht der Einheimischen gebeutelt ist. Dort sind die Immobilien günstig, die Verbliebenen dankbar, dass die Neuen sich um Natur, Ortsleben und Gemeinwohl kümmern. Nicht überall sind sie so aggressiv wie die „Dorfgemeinschaft Jamel“, allemal aber präsent, in der Hoffnung, die Mitbewohner in ihren volksgemeinschaftlichen Kokon einzuspinnen. Der Übergang von Öko-Esoterikern zu knallhart kalkulierenden Neonazis, zwischen AfD-Flüglern und Identitären ist da fließend. Im Kern steht immer das Phantasma von ländlicher Siedlung, naturnaher Selbstversorgung, Familie, Sippe und wahrem, zukünftig wieder „reinem“ Volk. Andrea Röpke und Andreas Speit klären über diese völkischen Lebenswelten, ihre ideologische Herkunft, die Verquickung mit der Naturschutzbewegung, ihre Immobiliengeschäfte und Netzwerke, über alle die Projekte völkischer „Landnahme“ auf. Es gibt übrigens einen monströsen Roman von 1932, in dem die Zangenbewegung gegen den demokratischen Staat visioniert wird, Frank Thieß’ Der Zentaur: hier die Völkischen, die Artamanen, dort die technophilen Nationalrevolutionäre, deren Wiedergänger die waffengeilen und intervernetzten Gewalttäter von heute sind.

Zu Letzteren. Gisela Friedrichsen, fürs Gerichtliche nacheinander bei der FAZ, dem Spiegel und der Welt zuständig, hat den Prozess gegen den sogenannten NSU zu einem Buch zusammengefasst. Nicht nur Anlass, Dauer und Umfang des Prozesses haben die Gemüter bewegt, sondern ebenso die kontroverse Frage, wer dazugehörte, in welchem Maße, verantwortlich war, dahintersteckte. Nicht selten wilde Spekulationen. Und vor allem die wilde Ungeduld derer, die kurzen Prozess machen wollten. Dagegen entfaltet Friedrichsen sozusagen Jahr für Jahr den Prozess in seinem Verlauf und in seinen Akteuren und kommt – gegen linken Alarmismus in den sozialen Medien wie rechte Grußbotschaften aus dem Gerichtssaal – zum bedächtigen Fazit, dass hier die Rechtsstaatlichkeit in ihrem Bemühen um Differenzierung, Wahrheit und Gerechtigkeit ihre „Nagelprobe“ bestanden habe, wenngleich das angesichts der jüngsten Entwicklungen kein Grund zur Beruhigung ist.

Erhard Schütz war bis 2011 Professor für Neue Deutsche Literatur an der Berliner Humboldt-Universität. Für den Freitag schreibt er einmal im Monat die Kolumne Sachlich richtig, eine konsequent verknappte, höchst subjektive Auswahl von Sachbüchern, die Sie unbedingt lesen sollten

Info

Weimar 1924. Wie Bauhauskünstler die Massenmedien sahen / How Bauhaus artists looked at mass media: Die Meistermappe zum Geburtstag von Walter Gropius Patrick Rössler, Klaus Kamps und Gerhard Vowe F. Steiner 2019, 208 S., 19,90 €

Sturmabteilung. Die Geschichte der SA Daniel Siemens Karl Heinz Siber (Übers.), Siedler 2019, 592 S., 36 €

Die Ambivalenz des Volkes. Der Nationalsozialismus als Gesellschaftsgeschichte Michael Wildt Suhrkamp 2019, 423 S., 24 €

Völkische Landnahme. Alte Sippen, junge Siedler, rechte Ökos Andrea Röpke, Andreas Speit Ch. Links 2019, 208 S., 18 €

Der Prozess. Der Staat gegen Beate Zschäpe u. a. Gisela Friedrichsen Penguin 2019, 304 S., 22 €

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