Vollstrecker der Moderne

Autobahn Erhard Schütz hat untersucht, wie deutsche Topoi und Mythen in der NS-Gebrauchsliteratur ihren Niederschlag fanden
Ausgabe 40/2019
Auch als Gesellschaftsspiel wurde den Deutschen die totale Mobilität nähergebracht, hier ein Detail der Packung
Auch als Gesellschaftsspiel wurde den Deutschen die totale Mobilität nähergebracht, hier ein Detail der Packung

Foto: PP Fotodesign/Imago Images

„Wie konnte das alles geschehen?“ Auf diese Frage hat Jan Philipp Reemtsma einmal geantwortet: „So. So, wie es eben geschehen ist.“ Das bedeutet für die Forschung, nicht, jedenfalls nicht zuerst, zu fragen, wie Humanität, Aufgeklärtheit, Moderne oder gar Gott es zulassen konnten, was während des Nationalsozialismus geschah, sondern zu fragen, wie geschehen ist, was denn da geschehen ist.

Im Bewusstsein, dass „Seinesgleichen geschieht“ (Robert Musil), weiterhin geschehen kann und wohl auch wird. Die Annahme einer skeptischen Anthropologie, dass es mit der Gutartigkeit und Veredelungsfähigkeit des Menschen vielleicht doch so weit nicht her ist, hat in der Vergangenheit weniger Menschenopfer gefordert als der Glaube, dass der Mensch von Hause aus gut sei und im Weigerungsfalle in Heime oder Lager gesteckt oder eben eliminiert werden müsse.

Mir hat geholfen, den Nationalsozialismus als eine erfolgreich scheinende Antwort auf die Moderne-Problematik zu sehen, die mit dem Ersten Weltkrieg nicht erst entstand, aber aufbrach: die Niederlage des Kaiserreichs, das nach außen als imperialistische Kampfmaschine erschien, nach innen als Fusionsversuch von traditional autoritär-hierarchischen Ordnungsinstitutionen mit einer hohen technologischen Modernisierung und Komfortisierung.

Lebenswerk

Mediendiktatur Zeit seines Wirkens als Germanist und Medienwissenschaftler hat sich Erhard Schütz (geb. 1946), bekannt auch als Verfasser der Kolumne Sachlich richtig, mit dem „Dritten Reich“ und den massenkulturellen Artefakten der Zeit des Nationalsozialismus beschäftigt. Einen Überblick über seine Forschung leistet seine Studie Mediendiktatur und Nationalsozialismus, die in diesem Jahr im Universitätsverlag Winter (422 S., 48 €) erschienen ist.

In seinem Buch untersucht Schütz, der von 1996 bis 2011 Professor für Neuere deutsche Literatur mit dem Schwerpunkt 18. bis 20. Jahrhundert am Institut für deutsche Literatur an der Humboldt-Universität zu Berlin und von 1996 bis 2018 Mitherausgeber der Zeitschrift für Germanistik war, mit Blick vor allem auf die Gebrauchs- und Massenliteratur Themenfelder wie den deutschen Wald, die Autobahn und die automobile „Bewegung“, das Wandern und Reisen und das Faszinationsprojekt Flug und Fliegen.

Der vorliegende Text stellt die überarbeitete und gekürzte Vorbemerkung von Mediendiktatur und Nationalsozialismus dar.

Unter den Antworten auf die Krisenerfahrung aus dem Scheitern des Kaiserreichs und der Niederlage im Weltkrieg hat sich der Nationalsozialismus zunächst als eine besonders experimentelle Antwort dargestellt, wenn man darunter die permanente Korrektur widersprüchlich-inkohärenter Antworten auf die jeweilige Opportunität hin versteht. Die Aufstiegsgeschichte des Nationalsozialismus war zugleich eine Fusion archaischer Wunschangst-Topoi mit expertischer Verwaltung und forcierter Technologisierung unter dem abstrakten Gebot des unbedingten Machtgewinns, der Hegemonialität als Selbstheilung und zukünftige Kränkungsvermeidung.

Einwilligung aus Desinteresse

Auf dieser Ebene war das Gros der Deutschen nicht von den Nazis zu trennen. Es gab eine hinreichende Schnittmenge des gemeinsamen Interesses an der Wiedergewinnung von Respektabilität und Sicherung zukünftiger Sicherheit und zukünftigen Komforts. Von daher muss man weder einen besonderen Enthusiasmus für die Nazis annehmen noch gar eine besondere nationale Disposition, wie etwa in Daniel Goldhagens „eliminatorischem Antisemitismus“.

Eher kann man für die zweite Phase dieses Paktes, als der Krieg tatsächlich kam und als dann der Krieg tatsächlich zur Qual wurde und als dann der Antisemitismus nun spätestens nicht mehr exzessartige Quälerei war, sondern organisierte Industrie, eher kann man für diese Phase eine Einwilligung aus Desinteresse annehmen. Gerade auch Desinteresse an sich selbst, entsprechend jener Ambivalenz in der Moderne, nämlich des Selbsterhalts durch Selbstverleugnung bis hin zum Selbstbilderhalt durch Selbstaufgabe. In dieser Hinsicht erscheint der Nationalsozialismus nicht als Sündenfall, Exzess oder Widerpart der Moderne, sondern als ihr innewohnend.

Diese Position hat nichts mit defätistischem Relativismus oder strategisch interessiertem Normalismus zu tun. Die grelle Zeichnung der Nazis, ihre ikonische Standardisierung in den Popularmedien zwischen Comic und Hollywoodfilm, historischen Kriminalromanen oder auf einschlägigen Plattformen, ist karikaturhafter Teil einer generellen Monstrosisierung, die unter umgekehrten Vorzeichen die Manichäisierung und Reklamisierung wiederholt, die zur Praxis der Nazis gehörte. Schon das zeigt, dass solches nicht außerhalb der Moderne steht, sondern ihr zugehört. Vor allem aber setzt nun die grelle Zeichnung und ikonische Stereotypisierung der Nazis das in Gang, was die Nazis mit der stereotypen Fixation „der Juden“ betrieben haben – nämlich das Unsichtbarmachen des realen Gegenübers.

Unter der Symbolherrschaft der Karikatur ist potenziell jedermann bedroht durch dezisionistische Zurechnung. Die routinierte Plakativität aber stimulierte zugleich eine normalistische Entschärfung. Während die völkischen Rückrufe zur nationalen Geschichtsglorie, in der die Zeit des Nationalsozialismus nur eine Episode gewesen sei, subkutan aber eben doch von der Dämonisierung zehrend, die Größenphantasmen wieder zu- und damit auch real werden lassen möchten, übt sich gerade zeitgenössische Literatur, zumal in Familien- und Generationsromanen, in der teils leicht gruseligen, teils privatanekdotischen Inklusion der ehedem braunen Mitglieder. Der braun gewesene Opa ist da ebenso allfälliger Topos wie der schneidige SS-Scherge andernorts Teil unserer Folklore.

Worum es mir in meiner Forschung zum angeblich spezifisch deutschen Wald, zur angeblich ebenso genuin deutschen Autobahn, zur automobilen „Bewegung“, zu Wandern und Reisen, zum Faszinationsprojekt Flug und Fliegen ging, ist die Auseinandersetzung damit, dass der zur Macht gekommene Nationalsozialismus nicht einmal die Fortsetzung des eigenen Radikalismus während der Weimarer Republik war, sondern Ersatz des Radikalismus durch ein Amalgam aus Monopolisierung und Polyzentrismus, Kumpanei und Konkurrenz.

Die Herausforderung dabei ist, nicht mit der Annahme eines dichotomischen, „gespaltenen Bewusstseins“ oder einer „Janusköpfigkeit“ der NS-Zeit sich zu begnügen, sondern – um im Bild zu bleiben – den brutalen wie gemütlichen Zügen in demselben Gesicht, den harmonistischen und destruktivistischen Gedanken im selben Kopf Kontur und Zusammenhang zu geben.

Wie kommt man zu so einem Ansatz? 1977 hatte ich als Germanist geschrieben: Wichtiger, aktueller als die Blut-und-Boden-Literatur scheint mir „die Gebrauchs- und Massenliteratur, darin insbesondere das romaneske Sachbuch, das bisher der Aufmerksamkeit entgangen zu sein scheint. In ihm findet sich der eigentliche Beitrag des Faschismus zur Alphabetisierung, die noch heute anhält.“

U-Boote am Feind

Was ich damals mit „Alphabetisierung“ meinte, war freilich eine von mir generell vorgestellte, eine, die vornehmlich die der Elterngeneration betraf. Dabei war es zuallererst meine eigene. Die Bücher, die ich damals als Exempel heranzog – Alois Schenzingers Hitlerjunge Quex und Anilin, und keineswegs nur sie –, waren neben dem Allfälligen von zunächst Karl May, Hans Dominik und den Forsthausbüchern von Erich Kloss, dann etwa Hermann Hesse und auch „richtige“ Lyrik, Rainer Maria Rilke und Georg Trakl, Gottfried Benn und Bertolt Brecht, Hans Magnus Enzensberger und Karl Krolow (!), vornehmlich Lektüre meiner Jugend gewesen, Titel wie Herzog Bojo oder U-Boote am Feind ebenso wie Ernst Jüngers Afrikanische Spiele. Ein Buch zum Beispiel auch, dessen Titel mir nicht mehr eingefallen ist, über angebliche polnische Gräuel an Volksdeutschen.

Das hinterließ bei mir ein Amalgam aus Heldentodessehnsucht und größenfantastischer Technikzukunft, triebverquollener Erotik und entsagender Opfermoral. Das alles stammte buchstäblich vom Dachboden. Dahin hatte sie mein Vater gebracht, schätzungsweise 30, 40 Bände, die, ausgesondert aus der Gemeindebibliothek des kleinen Dorfs, ihm, dem damals 24-jährigen, schwer kriegsversehrten „Gemeinderechner“, zu vernichten übergeben worden waren. Er hatte sie stattdessen versteckt, mit der Devise, wie er mir später stolz erzählte, dass nicht noch einmal Bücher brennen sollten.

Von ihrer sekretierten Anrüchigkeit fasziniert, las ich sie heimlich dort oben. Das muss im Alter von zwölf bis fünfzehn Jahren gewesen sein. Die meisten waren mir zwar zu langweilig oder unverständlich, doch Hitlerjunge Quex oder A. E. Johanns Land ohne Herz, alle die U-Boot- und Flieger-Heldenbücher fesselten mich. (Anilin dürfte sich übrigens gar nicht darunter befunden haben, denn das wurde, während ich später als Schüler die Gemeindebibliothek ein paar Jahre versorgte, dort noch öfters ausgeliehen.) Nachtragen muss ich, dass ich mit 16 oder 17, also um 1963, inzwischen zum postpubertären Vateropponenten und moralgewissen Anti-Nazi geworden, die allermeisten dieser Bücher im Garten mit dem Herbstlaub in grimmer Befriedigung heimlich verbrannte.

Als angehender Literaturwissenschaftler der siebziger Jahre war für mich die Literatur, wie sowieso der Film der Zeit von 1933 – 1945, integrales Produkt der „Kulturindustrie“, die nach 1945 und in der damaligen Gegenwart sich anscheinend, doch eher scheinbar vollends ausgebreitet hatte. Das, wovor ich warnte, war allerdings das, was mich selbst äußerst faszinierte.

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