"Warum helft ihr uns nicht?"

Verrat György Dalos und Paul Lendvai erinnern an den Ungarn-Aufstand 1956

Neunzehnhundertsechsundfünfzig ist das Jahr der Revolution in Ungarn. Welches Datum aber nimmt man zum fünfzigjährigen Gedenken? Den 23. Oktober, als die Solidarität mit den polnischen Reformern in heimischen Protest und unter Beschuss in bewaffneten Aufstand umzuschlagen begann? Nimmt man diesen emphatischen Augenblick, in dem noch alles ins Freie zu führen schien, oder nimmt man den 4. November, als die sowjetischen Armeen einfielen und den Widerstand binnen einer Woche blutig niederschlugen?

Als unlängst Ferenc Gyurcsány, der derzeitige, sozialistische Ministerpräsident Ungarns offenbarte, man habe statt zu regieren nur "morgens und nachts und abends gelogen und gelogen", und das ebenso unflätige wie bemerkenswerte Fazit zog: "Wir haben es verfickt", da gab es heftige öffentliche Protestversammlungen, von den einen als Aufmarsch (neo)faschistischen Gesindels gebrandmarkt, von den anderen als wiederauferstandener Revolutionsgeist von 1956 beschworen. Dass der Oppositionschef und ehemalige Ministerpräsident Viktor Orbán - je nach Sicht Nationaldemagoge oder christlicher Bürgertrost -, der 1989 öffentlich die Sowjetunion zum Abzug ihrer Armee aufgefordert hatte, sich von der Protestbewegung distanzierte, wurde ihm das von den einen als besondere Perfidie, von den anderen als Imre-Nagy-Virus angekreidet. Was auch immer im ideologisch halbierten Ungarn seit 1989 geschieht, die Revolution von 1956 bildet die Folie dazu, ja, ist dessen Motor. Für einen Laien-Beobachter hierzulande ist es nahezu unmöglich, eine andere als je intuitiv sympathisierende Position zu beziehen, zumal die Gewährsleute hierzulande kaum minder verblockt sind als in Ungarn selbst.

Nicht minder verblockt sind die Vorstellungen darüber, was es denn überhaupt damals war, ein Volksaufstand, eine Revolution? Was sie damals wollten: Freiheit. Aber Freiheit vom Stalinismus oder Freiheit zum Sozialismus, individuelle Freiheit oder nationale? Wer waren die Symbolfiguren? 1957 hat Hans Magnus Enzensberger als Beispiel für die typisch fehlinformierenden Personalisierungen des Spiegel angeführt, dass die Titel-Story zur "ungarischen Oktoberrevolution" mit einem Cover-Bild von Imre Nagy illustriert wurde: "Jeder aufständische Arbeiter hätte das historische Ereignis besser repräsentiert als dieser hilflose Mann." Doch war der "Hungarian Freedom Fighter", den das TIME Magazine im Januar 1957 auf seinem Cover als "Man of the Year" vorstellte, jener von Enzensberger beschworene unbekannte Arbeiter? Mit wildem Haarschopf, grimmem Blick und Panzerknacker-Kinn gemalt, einen verwegenen Schal um den Hals, eine Maschinenpistole ("Gitarre") auf die verbundene Hand gestützt, ist er vor der ungarischen Flagge mit herausgeschnittenem Sowjetemblem postiert.

In György Dalos Buch 1956. Der Aufstand in Ungarn ist das abgebildet. Dalos, damals 13 Jahre alt, erinnert daran, dass unterschiedliche Einschätzungen nicht nur im gegenwärtigen Raum gegeneinanderstehen, sondern sich auch in der Zeit veränderten: "In den späten fünfziger Jahren, noch ein halbes Kind, verspürte ich Trauer über die Niederlage, als Jungkommunist in den sechziger Jahren verdammte ich den Volksaufstand als Konterrevolution, in den siebziger Jahren entwickelte ich für die Ereignisse aufgrund meiner Lektüre und meiner eigenen Erfahrungen mit dem System zunehmend mehr Verständnis, ohne allerdings eine Wiederholung des blutigen Aufstands für wünschenswert zu halten."

Noch tiefer freilich geht die historische Dimension, bedenkt man, wie sehr im damaligen Selbstverständnis die Ungarn sich auf ihre Helden des nationalen Freiheitskampfes von 1848 bezogen. Und gar, wenn man die geradezu mythische Dimension ernst nimmt, die ein Historiker bereits 1956 anführte: "Die Geschichte des magyarischen Volkes, ein Jahrhunderte altes Epos von Widerstand und Kämpfen zur nationalen Selbstbewahrung - vereinsamt inmitten einer germanisch-romanisch-slawischen Umwelt."

Das Zitat findet sich in Paul Lendvais Der Ungarn-Aufstand 1956. Wie Dalos, so ist auch Lendvai Augenzeuge. Er ist damals Mittzwanziger und Redakteur der Abendzeitung Esti Hirlap. Die bewaffneten Konflikte erlebt er im Keller, in der Nähe des Corvin-Kinos, einem der Brennpunkte des niederkartätschten Widerstands.

Beide, Dalos wie Lendvai, geben persönliche Erinnerungen, vor allem aber historische Gesamtdarstellungen. Beide mit dem Fluchtpunkt in 1989 und der Geschichte seither. Obwohl sie kaum gemeinsame Gewährsleute haben, liegen ihre Darstellungen im Zentrum beisammen. Dalos akzentuiert stärker die Rolle der Intellektuellen, wie er überhaupt die kulturelle Situation stärker macht und auf Gedichte, Schlager oder Filmtitel eingeht, während Lendvais Sympathien zu denen tendieren, die von der Parteileitung damals als "faschistisches Gesindel" oder "Mob" tituliert worden sein sollen.

Bei beiden entsteht ein plastisches Bild, über dem eine Sentenz Georg Lukács stehen könnte: "Es gibt nichts Fürchterlicheres als eine Tyrannei mit schwacher Hand." Der kopflose Schlingerkurs der Partei, die jähen Gewalteskalationen durch Geheimpolizei und Militär, die Ermordung Unbeteiligter und Unbewaffneter auf beiden Seiten, über allem aber das Wunder einer erfolgreichen, wenn man so will polyzentrischen und polyperspektivischen Erhebung, in der sich Reformsozialismus, Nationalismus, christliche Reaktion und liberaldemokratische Positionen zunächst ergänzten. Dazwischen die, so der Historiker Miklós Molnár, "Kräfte des Chaos", die Plünderungen und Lynchjustiz betrieben und, so Dalos, von jedweder toleranten demokratischen Staatsmacht hätten ebenfalls radikal bekämpft werden müssen. Der wankelmütige Imre Nagy, die abenteuernden Kommandanten der Corvin-Gruppe und der charismatische Militär Pál Maletér, die sowjetischen oder von ihnen gesteuerten Intriganten und ihr Betrug und Verrat, das verzweifelte Ende des Aufstands unter den Ketten der Panzer. Die perfide Rolle Titos bei der Ausschaltung der Regierung Nagy und das Schicksal Milovan Djilas, der dessen Heuchelei entlarvte. Die folgende Hetzjagd auf die Unterlegenen. Schließlich jener "Gulaschkommunismus" von Janos Kádár, unter dem zwar die Erinnerung an den Aufstand bald tabu war, der aber Ungarn zur "fröhlichsten Baracke" des sozialistischen Lagers machte und noch heute den vierten Platz in der Hitparade der ungarischen Helden einnimmt.

Über zweieinhalb Tausend ungarische Tote und fast 20.000 Verwundete, die circa 700 Toten und 1.500 Verwundeten auf sowjetischer Seite nicht zu vergessen, etwa 300 Hingerichtete, 13.000 Internierte und 35.000 vor Gericht gestellte Personen, schließlich mehr als 200.000 Flüchtlinge - eine bittere Bilanz. Noch bitterer ist, wie der vollmundig die Freiheit hochhaltende Westen damals so gar nichts tat. Und das nicht nur, weil man gerade mit der eskalierenden Suez-Krise befasst war. Mit Ingrimm erinnert Lendvai daran, wie Radio Free Europe und Radio Liberty mit ihren Sendungen und über zwei Millionen Luftballons vor dem Aufstand und währenddem die Illusion geschürt hatten, der Westen stünde hinter den Freiheitssuchenden. "Warum helft ihr uns nicht?" - auch Dalos zitiert diesen verzweifelten Satz. Es mutet fast wie ein Treppenwitz der Weltgeschichte an, dass ausgerechnet der spanische Diktator Franco Truppen schicken wollte, von den USA jedoch zurückgepfiffen wurde. Die versprochene "westliche Solidarität" (Sándor Márai) setzte erst gegenüber den Flüchtlingen ein, die, so Dalos (Freitag 35/2006), wenn sie an baldige Veränderungen glaubten, nach Österreich und in die Bundesrepublik gingen, während die Skeptiker in die USA auswanderten.

Gut, man kann sagen, dass ein Blick auf die Landkarte hätte lehren können, wie völlig unmöglich für das Sowjet-Imperium ein Verzicht auf Ungarn war und dass der Westen das wusste und die möglicherweise katastrophalen Folgen scheute. Gerade darum ist der Stachel so giftig - im Bewusstsein des allseitigen und ausnahmslosen Verrats einer auf Hegemonialität bedachten Politik. Um so mehr sollte Bewunderung für jene Menschen bleiben, die aus den unterschiedlichsten Motiven heraus willens waren, auf sich allein gestellt, ihr Schicksal zu wenden.

György Dalos: 1956. Der Aufstand in Ungarn. Beck, München 2006, 247 S., 14,90 EUR

Paul Lendvai: Der Ungarn-Aufstand. Eine Revolution und ihre Folgen. Bertelsmann, München 2006, 320 S., 22,95 EUR


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