Was ist ein Regisseur gegen einen Alligator?

Literatur Professor Schütz erkundet Frankreich und die USA, Alfred Kerr steht ihm ausgebufft zur Seite
Ausgabe 51/2019
Demonstranten beim „Marsch auf Washington für Arbeit und Freiheit“ im August 1963
Demonstranten beim „Marsch auf Washington für Arbeit und Freiheit“ im August 1963

Foto: Hulton Archive/Getty Images

Als es in den Zügen Abteile nicht nur als Tobeplatz frecher Kinder gab, sondern für alle, wurde jeder Neuankömmling von den Insassen abweisend gemustert. Kam ein nächster, war die Vorhergehende bereits in die Abwehrgemeinschaft integriert. Waren alle Plätze belegt, blickte man kollektiv auf die herab, die im Gang stehen mussten.

So ungefähr kann man sich die Einwanderungsgeschichte der USA vorstellen. Allerdings kam es dabei oft zu Mord und Totschlag. Jill Lepore schildert diese Geschichte eindringlich. Allerdings hätte es dafür nicht der über tausend Seiten bedurft. Sie erzählt denn auch von entschieden mehr. Der Titel Vereinigte Staaten von Amerika bezieht sich auf die Grundwahrheiten der Verfassung, wonach alle Menschen gleich und frei seien.

Was genau Gleichheit und Freiheit jeweils im historischen Wandel bedeuteten, war wechselhaft, aber der grundsätzliche Anspruch wird zum Prüfstein einer von Anfang an widersprüchlichen Geschichte, die in einer plastischen Mischung aus Einzelschicksalen und Aktenlage erzählt wird, eine von Sklavenhaltern, die die Freiheitsrechte deklarierten, die Ureinwohner auszurotten versuchten, von Sekten, die die katholischen Iren buchstäblich bis aufs Messer bekämpften, von Briten, die auf die Deutschen herabblickten, wie diese auf alle anderen Nachkommenden, und sich mit den Italienern Schlachten lieferten. Alle zusammen gegen die aus Russland zuwandernden Juden und so fort, bis das Abteil vermeintlich voll war und versucht wurde, die Tür vor den Lateinamerikanern geschlossen zu halten.

Eroberungskriege vor und neben jenen in Europa und Asien nicht zu vergessen. Aber eben auch innen und außen durchgesetzte Freiheiten, die spätestens ab dem Ersten Weltkrieg nach außen auf selbstgewisser Vorherrschaft beruhten. Nun ist das in rapider Erosion, wofür Trump nur ein Symptom ist.

In und durch welch Land reiste dagegen 1924 mit Schiff, Zug und Auto Alfred Kerr, als alle deutschen Meinenden, die es sich leisten konnten, in die USA fuhren, um dort die Zukunft zu sehen – mit Grausen oder Hoffen. Yankeeland – ein feines Buch noch immer, das dabei herauskam. Und nun noch einmal in der schönen alten Aufmachung vorliegt. Kerr war ja nicht nur ein großer Theaterkritiker, sondern auch ausgebuffter Reisender, und in beidem ein meisterlicher Verworter. Freilich muss man seine Marotte, Kürzestabschnitte mit römischen Zahlen zu versehen, in Kauf nehmen. Aber dann findet man Perlen zuhauf, getreu seinem Credo: „Auch Landgemälde, die man schreibend gestaltet, müssen Extrakt sein.“

Was fällt ihm also in Hollywood ein? „Aber – was ist Pola Negri gegen ein Straußenweib? Was ein Regisseur gegen einen Alligator?“ Böser Blick auf die touristisch zugerichteten Hopi-Tänze: „Wie viel Erbärmlichkeit. Jetzt wildes Krähengehopse zweier Befederter.“ Drei Bestattungsformen: „Neben Vergrabung und Verbrennung also die Drainage“, nämlich die Zubereitung fürs Mausoleum. Weibliche Keuschheit, von der Mormonenbibel gefordert: „Diese war bei der mormonischen Polygamie, wo nur ein Mann auf mehrere Frauen kam, vielleicht nötig … Aber die Polygamie ist heut’ zu Ende – (wie das Opium in San Franciso). Nun kehrst du wieder, goldne Zeit, so froh und ungebunden.“

Sonderlich diplomatisch war er nicht, aber trefflich! Ein treffliches Selbstbeschenk.

Das ist kein kurzes, nicht einmal rein kurzweiliges Buch, aber eins, das man allen menschheitlich am Einzelexemplar Interessierten ans Herz und auf den Gabentisch legen kann. Klaus Bittermann, dessen Porträt ja nun auch einmal zu schreiben wäre, hat aus Anlass des sagenhaft vierzigjährigen Bestehens seines Verlags Tiamat seine besten Freunde und Feinde in Porträts – aus verschiedenen Zeit-, aber gleichen Charakterschichten – um sich versammelt. Obenan Wolfgang Pohrt, der hoffentlich unvergessene Wiglaf Droste, Eike Geisel, Roger Willemsen oder Harry Rowohlt, Fanny Müller und Lucia Berlin, Maxim Biller und HME u.v.a auf der Habenseite, tief in den geistigen Bankerott versenkt jene, die er lieblingsbefeindet – Grass und Walser, Sarrazin oder Gremliza mit der „Altersmeise“. Ein portioniert vorzüglicher Intellektuellenreigen geschriebener S-Klasse.

Und um es optisch sinnlich zu machen, unser viel zu dünnes Verhältnis zu und Wissen um Frankreich, hier in allerster Kürze ein durchaus gewichtiges, erhellendes und auch ins Gewissen redendes Buch über den Nachbarn, den wir vielleicht bereisen, aber viel zu wenig preisen, weil wir dito von ihm wissen. Nein, diese Geschichte Frankreichs im 20. Jahrhundert ist kein schierer Lobpreis der Grande Nation oder Douce France, sondern eine durchaus kritische Bestandsaufnahme, ob nun die desaströse Kolonialpolitik in Afrika oder Indochina, die innere Sprachkolonisierung gegenüber Minderheiten, ob Kollaboration. Doch das alles wiederum als unabdingbar zugehörige Teile einer Nation zwischen nationalfeudaler Selbstberauschung, kosmopolitisch generöser Kultiviertheit. Für Europäer ein freiwilliges Muss.

Info

Diese Wahrheiten. Geschichte der Vereinigten Staaten von Amerika Jill Lepore Werner Roller (Übers.), C. H. Beck 2019, 1.120 S., 39,95 €

Yankeeland. Eine Reise durch Amerika 1924 Alfred Kerr Aufbau 2019, 243 S., 22 €

Einige meiner besten Freunde und Feinde Klaus Bittermann Edition Tiamat 2019, 383 S., 20 €

Geschichte Frankreichs im 20. Jahrhundert Matthias Waechter C. H. Beck 2019, 604 S., 34 €

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