Wenn die Alliierten Nazi-Deutschland nicht bombardiert hätten ...

Abwurfzone Bücher zum "Dritten Reich", zum Bombenkrieg und über einen Hitler-Attentäter

Gerade hatte sich die Ansicht durchzusetzen begonnen, dass der NS-Staat zwar nicht komplett jene "Gefälligkeitsdiktatur" war, von der Götz Aly sprach, aber seine Insassen und Mitmacher durch Modernisierungs- und Komfortversprechen so zu ködern wusste, dass deren Wünsche gerne mitliefen. Bis tief in die Arbeiterschaft hinein. Zumal bis 1939 vermeintliche außenpolitischen Erfolge in Serie hinzukamen und die erste Kriegsphase offenkundig glorios verlief. Nun kommt der zweite Band von Richard J. Evans Geschichte des "Dritten Reichs" programmatisch unter dem Titel Diktatur einher.

Auf über tausend Seiten betont der britische Historiker von der Cambridge University wieder und wieder die Bedeutung von Kontrolle, Lenkung, Drohung und Bestrafung, kurz Terror und Einschüchterung von oben nach unten im System des Nationalsozialismus. Und damit meint er nicht vorrangig den Terror gegen jene, auf deren Kosten, Würde und Leben diese komfortable Diktatur sich einrichtete, sondern alle "Volksgenossen". So recht passt das freilich mit seinem Fazit nicht zusammen, man müsse beim Nationalsozialismus von der Vorstellung eines reibungslos funktionierenden, zentralisierten und effizient verwalteten Staates Abschied nehmen.

Evans geht in seinem ausladenden Buch zwar auf Kultur, Kunst und Konsum ein, bleibt dabei aber eng auf die Frage nach der unmittelbaren Propagandafunktion fixiert, enger als zum Beispiel Goebbels das handhabte. Auch zieht er schiefe Schlüsse. So weist er auf eine massiv ansteigende Reklame für Konsumgüter hin, folgert aus einer Notiz Victor Klemperers im März 1933, seine Zahnpasta trage nun ein Hakenkreuz, generell den politischen Anstrich selbst von Alltagsgegenständen. Diese wild entschlossene Hakenkreuzerei als Teil einer Marken- und Logo-Kultur verschwand tatsächlich aber auf Druck von oben aus dem Sektor der Konsumgüter bereits 1934 ebenso schnell wieder wie aus der von Goebbels kontrollierten Filmproduktion.


Weniger eindeutig war die Situation für die Kriegszeit seit Stalingrad. Evans dritter Band dazu steht noch aus. Hier liefert der Blick auf den Bombenkrieg Anhaltspunkte. Mit der Kriegswende in der Sowjetunion war bald die ostentative Euphorie einer über Europa hinaus reichenden Beutegemeinschaft vorbei. Immer sichtbarer trat Sklavenhalterwirtschaft an deren Stelle. Die wurde von den "Volksgenossen" hingenommen, weil es ihnen das Leben unter den Bomben erträglich machte - so lang und weit wie irgend möglich. Eben das aber bewirkte auch Komplizenschaft. Nehmen wir das Drehbuch zum verschollenen Film, den Goebbels unter dem programmatischen Titel Das Leben geht weiter noch Ende 1944 in Auftrag gegeben hatte, um den "Widerstandswillen" der Bevölkerung für alle Zukunft zu glorifizieren. Darin hat Ewald seine Frau beim Großangriff vom 22. November 1943 auf Berlin verloren. Freundin Leonore sagt tröstend: "Wir haben uns auf etwas eingelassen, Ewald, das ist so ungeheuer groß, das geht um Leben und Tod, und es ist schon zu viel Blut geflossen, als daß noch einer sagen könnte, es war bloß Spaß, nun will ich nicht mehr... und könntest du einen Mann achten, der so denkt?"

Der Brite Georges Chatterton-Hill, der das Kriegsende in Berlin erlebte, diagnostizierte: "Das deutsche Volk befand sich in einem geistigen Starrkrampf. Die Menschen sahen, ohne zu sehen ...". Im April 1945 beobachtete er eine "seelische Lähmung" und "krankhafte Teilnahmslosigkeit", gleichgültig gegenüber allem, "was nicht die Befriedigung elementarster leiblicher Bedürfnisse betraf". Diese und andere Beobachtungen kann man jetzt in Berichte aus der Abwurfzone nachlesen. Tagebucheinträge, Berichte und Reportagen, aber auch Literarisierungen durch Personen verschiedenster Nationalitäten, Schriftsteller und Diplomaten, Privatiers und Journalisten sind darin versammelt - chronologisch vom Beginn 1939 bis ganz zum Ende. Das beginnt wie bei Karen Blixen mit dem Romantischen der Verdunkelung, operiert mit Stereotypen wie der "Hure Babylon" oder zitiert in grimmer Befriedigung die Apokalypse.

Da zeigt sich die ehedem russische Prinzessin Wassilitschkow fasziniert von den "Christbäumen" oder indigniert ob der Störungen im geplanten Abendprogramm. 1942 bezeichnet sie den Tod einiger Kühe und Pferde tatsächlich als "Holocaust". 1943 bedauert sie, dass der Luftdruck einer Bombe, sie um ihre Monatsration Harzer Käse bringt. Der amerikanische Korrespondent William Shirer hingegen ärgert sich, dass die Briten nicht mehr Flugzeuge aufbieten. Der französische Schriftsteller Thérive zitiert John Knittels Prognose: "Der Krieg wird aufhören, wenn die Engländer Ratten fressen. Und die Deutschen Rattenersatz!" Der Schwede Fredborg notiert 1943, dass man in Berlin zwar das völlig zerstörte Opernhaus wieder aufgebaut, aber nichts für die daneben liegende Hedwigs-Kathedrale getan habe. Der Schweizer Konrad Warner notiert nüchtern, dass unter den Glassplittern allüberall das Schuhwerk leide, aber auch, wie erschreckend "sachlich" ihm ein zehnjähriger Junge vom großen Angriff am 23. November 1943 berichtet habe. Diese Sammlung der verschiedensten Stimmen aus verschiedenen Zeiten und zu unterschiedlichen Städten beeindruckt durch ihren Facettenreichtum. Sie ist einer immensen Geduld und Findigkeit beim Aufspüren der Zeugnisse zu danken, die überdies sorgfältig kommentiert sind.

Neben dem Punkt, dass überhaupt eine erkleckliche Anzahl Ausländer sich so lange freiwillig im Reich aufhielt, ist bemerkenswert, dass es sich um allesamt Privilegierte handelte. Was hingegen jene zu berichten gehabt hätten, die als "Fremdarbeiter", als Kriegsgefangene oder Häftlinge das alles erleben mussten, kann man nur ahnen.


Der amerikanische Journalist Edward Murrow, der mit britischen Bombern im Dezember 1943 über Berlin flog, fasste das so zusammen: "Der Job ist nicht angenehm. Er ist schrecklich ermüdend. Am Himmel sterben Männer, während andere in ihren Kellern bei lebendigem Leibe verschmoren." Eben diese Toten, geht es nach den gegenwärtigen Diskussionen, sollen nicht zur Ruhe kommen, ehe man geklärt hat, wie sie zu etikettieren sind: Opfer oder Täter, Helden oder Kriegsverbrecher. Über 55 Tausend fliegendes Personal haben die Alliierten im Luftkrieg verloren. Sind sie nach dem, was Jörg Friedrich mit Der Brand suggerierte und andere explizit auszulegen versuchten, Kriegsverbrecher, deren Handlanger oder Instrumente? Das Feld ist noch immer unübersichtlich. Was weiß man beispielsweise von den alliierten Agentinnen, die über den von den Deutschen besetzten Ländern absprangen, um dort unerkannt Informationen zu sammeln oder den Widerstand zu organisieren? Sieht man sich die stattliche Liste am Ende von Monika Siedentopfs kenntnisreich und lebendig geschriebenen Buch an, sind zwar viele wieder zurückgekehrt, aber bei ebenso vielen erscheint monoton: Tod im KZ. Nur die Ortsnamen wechseln.

Jüngst ist das Buch eines englischen Philosophen zur Bewertung des Bombenkriegs erschienen. Wo das Original neutral von Geschichte und Vermächtnis spricht, führt die Übersetzung umstandslos die Frage im Untertitel: Waren die alliierten Bombenangriffe Kriegsverbrechen? Das Buch beantwortet die Frage mit: Ja. Diese Antwort hat freilich nichts mit dumpfen Muckereien hier oder spektakulärer Nestbeschmutzung dort zu tun. Anthony C. Grayling macht es sich nicht leicht. Ihm ist klar, dass er nicht einen historisch erkalteten Fall seine Schulweisheiten durchdekliniert, sondern im Zeichen der stattgehabten Luftkriegs-Interventionen der westlichen Mächte in der jüngsten Geschichte durchaus auf Aktualität hin gelesen werden wird und auch will. Es war seinerzeit die Weigerung Hitlers, die einschlägigen Passagen der Genfer Konvention zu akzeptieren, aber auch die "guten Erfahrungen" der Briten beim Bombardement ihrer indischen Kolonien, die das Verbot des Luftangriffen ziviler Ziele völkerrechtlich ausbleiben ließ. Darauf berief sich denn auch später "Bomber Harris", der britische Fanatiker des Auslöschungskriegs aus der Luft.

Mit solchen Argumenten begnügt sich Grayling nicht. Er ist durchaus nicht grundsätzlich gegen Luftkrieg. Schon gar nicht gegen einen gerechten Krieg. Er lässt auch keinen Zweifel daran, dass er die etwa 800 Tausend Opfer des Bombenkriegs nicht mit den Opfern des Genozids oder gar der Opfer des von den Deutschen und Japanern herbeigeführten Kriegs gleichsetzen will. Was er vielmehr untersucht, ist das Konzept von "area bombing", das die Briten betrieben und die Amerikaner, die es für Europa ablehnten, in Asien ohne Zögern anwandten. Hierzu nimmt er sich sowohl das Schicksal Dresdens vor, zu dem es keinerlei militärische, aber machtpolitische Rechtfertigung gab, als auch die "Operation Gomorrah" gegen Hamburg. Im Kern geht es um die Absicht, gezielt Zivilisten in den Krieg einzubeziehen und systematisch die Städte des Gegners auszulöschen. Das war weder bei den deutschen Angriffen auf Warschau, Rotterdam und Coventry der Fall gewesen. Indes bekam es eine entsprechende Wendung, als Hitler renommierte, die Städte des Gegners zu "coventrisieren".

Nach Prüfung aller Argumente kommt Grayling zu dem Urteil, dass schon die "Operation Gomorrah" ein Kriegsverbrechen war. Umso mehr Hiroshima und Nagasaki, wo militärische Notwendigkeiten in einem gerechten Krieg längst nicht mehr gegeben waren. Grayling hält bei alledem Maß. Er vergisst nicht, auf das ebenso Verbrecherische des Anschlags auf das World Trade Center wie der Attacken der IRA oder ETA hinzuweisen. Wenn er die Frage, ob Flieger den Einsatz hätten verweigern sollen, mit einem Ja beantwortet, scheint denn doch die Grenze des wie auch immer Realistischen überschritten zu sein.


Es mag moralphilosophisch interessant und auch geboten sein, über die Rechtfertigung des Tyrannenmords nachzudenken, im Falle Hitlers ist eher zu bedauern, dass es so wenige und so späte Versuche gegeben hat. Die Diskussionen um den 20. Juli 1944 werden weitergehen. Das Attentat des Schreiners Georg Elsers am 8. November 1939 jedenfalls verdient jedweden Respekt. Weder kam es aristokratisch zu spät, noch ist es für einen gloriosen Proletarierwiderstand zu verbuchen, auch wenn Elser bei der Verhaftung das Abzeichen der Rotfrontkämpfer bei sich trug. Es verdient, nicht in Vergessenheit zu geraten - gerade, weil es ein "einfacher", gerader Mensch war, der hier handelte. Und nicht einer aus den Reihen der intellektuellen Verächter, aber faktischen Nutznießer von Hitlers Regime. Ebenso verdient Respekt, wenn Menschen heute sich noch die Mühe machen, seiner und seiner Tat zu gedenken.

13 Minuten haben gefehlt. Hitler verließ den Bürgerbräukeller in München zu früh. Oder anders: Elser hat seine "Höllenmaschine" zu spät eingestellt. Überlegungen, was geworden wäre, wenn, sind müßig. Aber dass ein durchschnittlicher Deutscher beim Versuch, ein desaströses System vom Kopfe her zu beseitigen, über sich und alle Zeitgenossen hinauswuchs, das ist wert, überliefert zu werden! Das hat eine Initiative aus Bremen sehr vorbildlich getan. Auch wenn unter den vielen Stimmen, die sie versammelt hat, die eine selbstgerechte oder andere prominent nichtssagende ist, insgesamt ergibt sich ein differenziertes Bild Elsers und seiner Tat. Den bemerkenswertesten Beitrag hat nicht ein Spezialist für Memorialroutinen, sondern ein Fachmann der Feuerwehr geliefert. Karl-Heinz Knorr rekonstruiert in nüchterner Systematik die strategischen und handwerklichen Leistungen Elsers, mit denen, wie Knorr lapidar feststellt, seine konspirativen leider nicht Schritt hielten.

Richard J. Evans: Das Dritte Reich. Band II: Diktatur, DVA, Stuttgart 2006, 1083 S., 69,90 EUR

Oliver Lubrich (Hg.): Berichte aus der Abwurfzone. Eichborn, Frankfurt am Main 2007, 479 S., 28 EUR

Monika Siedentopf: Absprung über Feindesland. dtv, München 2006, 199 S.,
14,50 EUR

Anthony C. Grayling: Die toten Städte. C. Bertelsmann München 2007, 414 S.,
22,95 EUR

Achim Rogoss, Eike Hemmer und Edgar Zimmer (Hg.): Georg Elser - ein Attentäter als Vorbild. Edition Temmen, Bremen 2006, 168 S., 12,90 EUR


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