Wenn die rote Sonne bei Capri verstaubt

Sachlich richtig Professor Schütz geht steil. Auf Türme rauf und in die grubenschwarze Unterwelt hinunter. Immer ein Liedchen auf den Lippen. Glück auf!
Neapel, wo auch die höchsten Höhen noch einen Hauch von Unterwelt atmen
Neapel, wo auch die höchsten Höhen noch einen Hauch von Unterwelt atmen

Foto: Mario Laporta/AFP/Getty Images

Vertikal und horizontal. Niall Ferguson hat Ungeheuerliches entdeckt: Die Historiker haben sich immer nur den Hierarchien, aber nicht hinreichend den Netzwerken gewidmet! Das will der Überhistoriker gründlich ändern. Denn: „Die Welten von Hierarchien und Netzwerken treffen aufeinander und interagieren.“ Ihr „Zusammenspiel“ will er also von der Antike, eigentlich sogar vom urigen Ur, bis heute erzählen. Dazu muss er sich allerdings die Verschwörungstheoretiker vom Leibe halten, für die Netzwerke vulgo Verschwörungen ihre Leibspeise sind. Seine gute Botschaft: Es gibt ganz entscheidende Wendepunkte von hierarchiestarren zu netzwerkbefreiten Zeiten. Die eine seit Beginn des 16. Jahrhunderts, mit den Folgen von Gutenberg, Luther und den fernen Eroberungen. Dann die der im 19. Jahrhundert aufkommenden Kommunikations- und Transportnetzwerke, schließlich die internetten der heutigen Zeiten. Der titelgebende Turm steht für Hierarchie und der (Markt)Platz für Netzwerk – hier im italienischen Siena.

Das steht zugleich für das Verfahren des gesamten Buchs. Es exemplifiziert in einer solchen Vielzahl von Beispielen, dass man oft nicht weiß, ob man grad auf dem Weg vom Platz in den Turm oder von diesem nach unten ist. Hier gibt der mediale Tausendsassa seinen tausend historischen Sassas Zucker. Er liefert ein Patchwork mehr denn Netzwerk aus Gelehrsamkeitsminiaturen, die fürs Thema eher suggestiv denn argumentativ zwingend sind. Nette Trouvaillen darunter. Und so gut wie nichts bleibt unangerissen. So werkeln wir uns netz durch die Heiratspolitik von Sachsen-Coburg-Gotha, die Rothschilds, dazu ein Quickie zum britischen Empire, der NS auf vier Seiten, die Mafia, Henry Kissinger und Nixon, Arpanet, die polnische Opposition, al Qaida, Trump, die chinesische Führung – um nur ein paar zu nennen. (Einzig wohl die italienische Propaganda due, die sog. RAF und vor allem die Kardashians fehlen.) Irgendwie entstehen jedenfalls aus Hierarchien Netzwerke. Oder war es doch eher umgekehrt? „Die Welt bleibt eine Welt von Türmen und Plätzen.“ – tröstet uns der letzte Satz. Mit seinen 60 Kapitelchen ist das ideal als E-Book oder dort, wo man Portiönchen liest. Zudem absolut distraktionskompatibel.


“'t Was on the Isle of Capri that I found her”, sangen Bing Crosby, Frank Sinatra, Fats Domino etc. seit den 50ern den Song von 1934. „Capri, c’est fini“ sang Hervé Vilard 1965. Doch Capri ist nicht am Ende. Im Gegenteil, wie Dieter Richter, der ebenso exzellente Kenner des kulturellen Italiens wie glänzende Autor von einschlägigen Büchern zeigt. Bei ihm ist Capri mehr als die Blaue Grotte und Ort der Therapien zwischen Eremiteneinsamkeit und Tuberkuloseheilung, mehr als der Arzt von San Michele oder Bedürfnisse nach Knabenliebe, mehr als linker Philosophentreff und Flüchtlingsinsel, mehr als Joseph Beuys und Thomas Manns Tochter Monika: ein eigener Kosmos mit alledem und viel, viel mehr!


Bleiben wir in der Gegend: Neapel. Einmal nicht via Ferrante. Der Ethnologe und Literaturwissenschaftler Ulrich van Loyen hat ein nahezu ähnlich episches Werk über Neapel geschrieben, eine dichte Beschreibung der dichten Vernetzungen und Verstrickungen der Stadt, von Tradition, Religion, Politik und Geschäftsmodell Verbrechen. Von Nischen und Verbindungen, Myzelen der wechselweisen Verpflichtungen – außer natürlich gegenüber Politikern, die man beschimpfen und bescheißen darf. Ausgangspunkt war teilnehmende Beobachtung zum eigentümlichen Kult um die zigtausend Schädel und sorgsam sortierten Knochen des ehemaligen Pestfriedhofs Cimitero delle Fontanelle im Viertel Sanità, am Rande der Altstadt, sowie die tief in den Tuff getriebenen Grabgewölbe und -gänge etwa der Basilika Madre de Buon Consiglio: Nämlich einen Schädel zu adoptieren, ihn zu pflegen, für ihn zu beten, ihm Opfergaben zu bringen, auf dass er wiederum zu geheimen oder offenbaren Wünschen Rat, Hilfe, gar Wunder bewirke. Aberster Glaube an die Grateful Dead. Von daher entwickelt van Loyen unter der Schreibhand eine Geschichte, eher Mythostase Neapels, an einer Schwellenzone, den Resistenzkern von Geschichte, Traditionen, Ritualen und Gewohnheiten dieser Stadt, in der keine Treppen sozial nach oben, sondern nur Gänge in die Unterwelt zu führen scheinen. Ein eigener Kosmos der Mediation, in der sich die Herr-Knecht-Dialektik von Familismus, Klientelismus und Patronage unauflöslich mit magischen Inkorporationen des Mittlertums der vielfältigsten Art verbinden, wo schließlich die Toten für die Armen (ein)stehen und die Armen an Stelle der Toten. Ein geschlossenes System, aus dem vielleicht je nur der Verrat an den Tourismus herausführen könnte.


Und nun noch viel tiefer hinab, in den Schacht, in dem nun Schicht ist, zumindest in Deutschland. Der im Ruhrgebiet aufgewachsene Freiburger Historiker Brüggemeier führt tief zurück ins Zeitalter der Kohle, das um 1750 angefangen hat, aber eigentlich bis in die Farnwälder vor 250 bis 350 Millionen Jahren zurückreicht. Entlang von Schnittstellen der Kohle – hier nur der Stein- und nicht auch der lange ähnlich wichtigen, aber problematischeren Braunkohle –, nämlich Holz einerseits, Wind- und Sonnenenergie andererseits, dazwischen zu Atomkraft und Erdöl entwickelt er den Aufstieg der Steinkohle bis hin zu ihrem heutigen Verenden. Apropos Erdöl: Der Historiker Timothy Mitchell hat herausgearbeitet, dass Kohle-Länder anders als Erdöl-Länder entschieden bessere Voraussetzungen hatten, demokratische Strukturen auszubilden. Obwohl – oder gerade weil, wie Brüggemeier letztlich und detailliert zeigt – gerade in der Kohleindustrie es doch die harten Konflikte von Unternehmern und Unternommenen gab. In einem souveränen chronologischen Überblick entwickelt Brüggemeier, wie und warum Kohle das Holz ablöste, wie Kohle die Eisenbahn beförderte, die wiederum die Kohle beförderte, wie wichtig Wasserwege zum Transport waren, aber erst einmal auch Konsumentenerziehung betrieben werden musste. Er stellt die Entwicklungen von Bohrtechniken und Schachtbau ebenso dar wie vor allem die sozialen Verhältnisse des Personals, Frauen, Kinder, Zuwanderer – Grubenbarone, Hauer und Steiger. Ein beeindruckender, auch international orientierter Parcours, der Umweltbelastungen ebensowenig ausklammert wie die Subventionsfolgen und den schwierigen Ausstieg. Was bleibt als „Erbe“ der Kohle? „Das konstante Angebot an verlässlicher und bezahlbarer Energie, das zu einem unverzichtbaren Bestandteil von Alltag und Wirtschaft geworden ist.“

Türme und Plätze. Netzwerke, Hierarchien und Kampf um die globale Macht Niall Ferguson Helmut Reuter (Übers.) Propyläen 2018, 640 S., 32 €.
Die Insel Capri. Ein Porträt Dieter Richter Wagenbach 208 S.14,90 €
Neapels Unterwelt. Über die Möglichkeit einer Stadt Ulrich van Loyen Mathes u. Seitz 2018, 360 S., 28 €
Grubengold. Das Zeitalter der Kohle von 1750 bis heute Franz-J. Brüggemeier C. H. Beck 2018, 456 S., 29,95 €

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