Wo es lang geht

Sixpack Kolumne

In Amalfi steht das Denkmal von Flavio Gioia. Er soll 1302 den Kompass erfunden haben. Dumm nur, dass die Chinesen, auch wenn sie zunächst mit der Magnetnadel bloß Feng Shui betrieben, ihn schon Jahrhunderte vorher benutzten und er derart spätestens im 12. Jahrhundert auch in Europa bekannt war. Von Amir D. Aczel erfahren wir aber nicht nur, dass er mit dem Alfa Romeo 156 zu Quellenstudien nach Amalfi fuhr, sondern eben dies - was zu Gioia und seinem Denkmal führte, wie der Kompass wohl nach Europa kam und wie er dort mit der Windrose kombiniert wurde, was die Chinesen vorher mit magnetischen Fischen und Schildkröten trieben, was Marco Polo (vielleicht) mit alledem zu tun hatte, wie man ohne Kompass sich auf dem Meer nach Winden und Sternen orientierte, wie das Mittelmeer kartiert wurde, wie Kolumbus, Da Gama, Magellan und Cook navigierten - und vieles, vieles mehr. Das ist auf beste Sachbuchmanier geplaudert, nicht geschwätzig, sondern wie´s Hündchen: Immer um´s Thema, fröhlich hin und her. Über der Lektüre vergisst man ganz zu fragen, warum man das nun eigentlich alles wissen wollte, freut sich aber um so mehr, dass man in den dunkleren Tagen ein so mediterranes Buch zu lesen hat, das nicht nur das Gemüt, sondern auch noch den Wissenshorizont erhellt.

Amir D. Aczel: Der Kompass. Eine Erfindung verändert die Welt, Rowohlt, Reinbek 2005, 175 S., 17,90 EUR


Antal Szerb, der seit dem 1937 geschriebenen, 2003 bei uns erschienenen Roman Reise im Mondlicht 2003 eine immer noch anwachsende Gemeinde an Suchtlesern hat, war in Ungarn ein ebenso erfolgreicher Romancier wie Literaturhistoriker. Beide Qualitäten vereinigen sich in Das Halsband der Königin, der Geschichte jener ominösen Affäre um Marie Antoinette, deren 250. Geburtstag Royalisten am 2. November feiern könnten. Auf dezente Weise geistreich, milde ironisch, rückt Szerb hier die Geschichte gegenüber der Schulweisheit über das, was zur Französischen Revolution führten, in ein anderes Licht: "Das ancien regime ist nicht so sehr an seinen Lastern zugrunde gegangen wie an seinen Tugenden. Die Sünden, die Missbräuche waren zur Zeit Ludwigs XVI. keineswegs ärger als in allen früheren Jahrhunderten ... - der Unterschied lag in den Tugenden: in der Philanthropie, in der Neigung zur Volkstümlichkeit." Das sentimentale Hinabbeugen zum Volk hat dem nichts genützt, dafür aber den Apparat der Schranzen in Ängste versetzt - und so kochte die Gerüchteküche ein pikanteres Rezept nach dem anderen. Was Robert Darnton in den zurückliegenden Jahren minutiös rekonstruiert hat, das findet sich in diesem populärhistorischen Sachbuch von 1943 in souveräner Eleganz vorgezeichnet - ebenso unterhaltsam wie klug.

Antal Szerb: Das Halsband der Königin. Aus dem Ungarischen von Alexander Lehart. Überarbeitet von Ernö und Renate Zeltner. dtv München 2005, 282 S., 9,50 EUR


Als "Düsenjäger des Asphalts" feierte man in den Fünfzigern die Rennwagen, das, was heute die Formel 1 bestückt. Caracciola, Kling, Fangio waren die Helden und man erinnerte sich an den tragisch genannten Tod von Bernd Rosemeyer. Der war 1938, zur Nazi-Zeit. Die Nazis und die Silberpfeile - das untersucht Uwe Day in seinem Buch über den Autorennsport im Nationalsozialismus. Damals hielt sich Daimler-Benz eine "Literarische Abteilung" - die machte PR. Die Mercedes-Renner hatten 1934 beim Eifel-Rennen ein Kilo zu viel Gewicht. Man schrubbte den Lack ab - und so entstanden angeblich die Silberpfeile. Solche Geschichten und mehr. Wie die Nazis den Rennsport förderten, als ›Motor‹ für die Autobahn, als Beweis deutscher Leistungskraft, als Ausweis der Dynamik ihrer sogenannten Bewegung - wie die Industrie kooperierte und die Medienleute sich begeisterten, wie Technikfaszination in Wort, Bild und Ton verkauft wurde, das liest man hier weniger anekdotisch aufgepeppt, eher wissenschaftlich akribisch und nüchtern. Doch um so verlässlicher.

Uwe Day: Silberpfeil und Hakenkreuz. Autorennsport im Nationalsozialismus, be.bra Berlin 2005, 319 S., 24,90 EUR


Erinnerung an den Nationalsozialismus will nicht aufhören. Schon gar nicht bei denen, die nichts daran zu erinnern haben, weil sie die Gnade erlebten, noch später als Helmut Kohl geboren worden zu sein. Erinnerungsliteratur boomt und so auch die Literatur über Erinnerungsliteratur. Die italienische Literaturwissenschaftlerin Elena Agazzi hat nun ein Büchlein vorgelegt, das sich der erinnerten und rekonstruierten Geschichte bei drei Autorengenerationen und drei Haltungen widmet: Das will ich vergessen, kann es aber nicht; das könnte ich nicht vergessen, selbst wenn ich wollte; das möchte man zwar, darf es aber nicht vergessen. Martin Walser ist darunter, Dieter Forte, W. G. Sebald, Hans-Ulrich Treichel, Jens Sparschuh, Michael Kleeberg, Tanja Langer, Marcel Beyer und Judith Kuckart. Der besondere Reiz dieser sensiblen, genauen und eingehenden Lektüren, äußerst fachkundig, aber nicht nur an Spezialisten adressiert, liegt darin, dass hier ein Blick von außen auf die deutschen Innerlichkeiten geworfen wird. Wohlvertraut mit der deutschen Literatur, ihrer Geschichte wie den jüngsten Erscheinungen, stellt Elena Agazzi immer wieder subtil Bezüge zu internationalen Entwicklungen und avancierten Theorien her. Nach diesem Bändchen weiß man begründeter, was die deutsche Literatur derzeit (noch) antreibt, was ihr zuzutrauen und was von ihr wohl kaum zu erwarten ist.

Elena Agazzi: Erinnerte und rekonstruierte Geschichte. Drei Generationen deutscher Schriftsteller und die Fragen der Vergangenheit. Vandenhoeck und Ruprecht, Göttingen 2005, 175 S., 16,90 EUR


Günter Gaus hat darauf gepocht, dass der Satz über die Gnade der späten Geburt von ihm stammt. In einem der letzten Interviews vor seinem Tode hat er zu einer Gruppe Studenten von seinen Erfahrungen mit Literatur und Autoren der DDR gesprochen. Anekdotisch und doch dezidiert. Dass es "vielleicht doch ›Gesamtdeutsches‹ gab", darüber sei nachzudenken. So sein letzter Satz. Friedrich Dieckmann nennt die bundesdeutsche eine "deutsche Literatur aus einem anderen Land", F. C. Delius will Autoren nicht unter "Ost" oder "DDR" subsumiert wissen. Ihm sei es stets darauf angekommen, dass einer schreiben konnte. Braun kannte, meint er auf die studentischen Fragen, Kant nicht. Kant, den Gaus grantelnd in Schutz nahm, hat sich ebenfalls den Fragen gestellt, um "bestimmte Tatsachen vorm ideologischen Verschüttgehen zu bewahren". Er hatte es "mit zwei Literaturen, vor allem aber mit zwei Literaturbetrieben zu tun". Wie es damals um die inoffiziellen, die privaten und kollegialen Beziehungen zwischen deutschen Schriftstellern aus Ost und West stand, das hat der Literaturwissenschaftler Roland Berbig mit einer Gruppe Studierender pionierhaft zu explorieren unternommen. Das Erstaunlichste an diesem bestaunenswerten Buch: Wie viele der großen Namen mitgemacht, Aufsätze beigesteuert, geduldig Fragebogen ausgefüllt und Interviews gegeben haben. Dieter Wellershoff und Reiner Kunze, Christa Wolf und Günter Kunert, Elisabeth Borchers, Peter Härtling, Peter Rühmkorf und und. Gewiss, dies literarische Puzzle ist (noch) nicht vollständig, aber es ist prall an Informationen, Anekdoten und Skizzen, Rekonstruktionen und Reminiszenzen. Vor allem aber ist es geeignet, Klaus Schlesingers Hoffnung zu erfüllen, den Vergleich endlich auf eine andere Ebene zu heben. Was auf der zu sehen ist, zeigt die Literatur nicht frei, aber doch befreiter von den politischen Klammern - so, wie man es wünschte.

Roland Berbig (Herausgeber): Stille Post. Inoffizielle Schriftstellerkontakte zwischen West und Ost, Berlin: Ch.Links, Berlin 2005, 403 S., 22,90 EUR


"Unabänderliche Gründe, um nicht glücklich zu sein, hat die menschliche Natur genug. Nehmen wir ihr die hinzugekommenen Anlässe, die ebensogut wieder fortgeräumt werden können!" So Heinrich Mann 1945. Aber es ist gar nicht einfach, das überflüssige Unglück auszumachen. Sind Homoerotik oder der Hang zu fetten Weibern, ist der Bruderzwist von Natur aus oder vermeidbar? Eine Partei erweist sich als die siegreiche, hat Hegel gesagt, indem sie sich spaltet. So die Partei der Manns, der Bürger par excellence. So sehr sie sich gegrämt und wechselseitig gepeinigt haben mögen, ihren Verstand und ihr Werk hat die Feindschaft glücklich geschärft. In einem mächtigen Band des renommierten Thomas-Mann-Forschers Helmut Koopmann bekommt man endlich einmal keine vulgärpsychologisierenden Homestories und Human-Interest-Geschichten, sondern wird der Blick wohltuend auf die Werke beider gelenkt. Ein um Gerechtigkeit bemühter Blick. Informationsgesättigt, in souveränem Überblick, wird die Geschichte der brüderlichen Rivalität geduldig so entfaltet, dass beider Werk dabei erhellt wird, so dass darin schließlich eine Art Doppelhelix großer Bürgerprosa des 20. Jahrhunderts entsteht. Bis auf einige gravitätische Herablassungen durchweg gut geschrieben, könnte man sogar daran gehen, es en suite zu lesen. Gewiss aber wird man es von Lektüre zu Lektüre konsultieren wie Linienrichter und -kamera von Spiel zu Spiel.

Helmut Koopmann: Thomas Mann - Heinrich Mann. Die ungleichen Brüder. C. H. Beck, München 2005, 531 S., 29, 90 EUR


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