Zeitreisen

Sixpack Kolumne

Kein böser Ort = der Flecken Görsdorf, den Günter de Bruyn sich Ende der sechziger Jahre als Zuflucht ausgesucht hatte. Nun hat der bald Achtzigjährige dem märkischen Abseits ein ebenso liebe- wie kenntnisvolles Buch gewidmet. Auch wenn die allerersten Seiten in ihrem maniriert substantivischen Fontanogoetheanismus abschrecken: danach gerät man in einen bestrickenden Text. In leiser, stets genauer Sprache, unterfüttert mit unaufdringlicher Recherchepräzision, führt de Bruyn in eine Landschaft ein, die andere wahrscheinlich nicht einmal als solche zu bezeichnen bereit wären. "Die Vorzüge der hier zu beschreibenden Gegend bestehen vor allem in dem, was ihr fehlt." Wenn man jedoch den Landschaftsrundweg abgeschritten ist, dann hat man zugleich einen subtil komponierten Geschichtslehrpfad hinter sich gelegt. Und man glaubt, in einem Zauberreich gewesen zu sein, in einer Gegend, die anders als durch das Meisterwort der Empathie, der geduldigen Aufmerksamkeit und diskreten Neugier überhaupt nicht existierte. Wen, wo immer er auch zu Hause ist, zöge es nicht in eine solche Heimat - jedenfalls in der Lektüre?

Günter de Bruyn: Abseits. Liebeserklärung an eine Landschaft. S. Fischer, Frankfurt am Main 2005, 191 S., 19,90 EUR


Böse Orte = Was von den Nazis kontaminiert wurde. Nach Götz Aly und seiner Attacke gegen den Sozialstaat wäre so ziemlich jeder deutsche Haushalt ein böser Ort. Die (meist) jungen, meist bekannten Literarjournalisten hier halten sich an andere Stätten: Sie suchten den Führerbunker und besuchten den Obersalzberg, Prora, Carinhall, das Olympiastadion, Peenemünde oder folgen der Autobahn. Auch Alt Rehse, das Musterdorf, in dessen Kern die Führerschule der deutschen Ärzteschaft stand, die sogenannte Euthanasie-Schule. Jana Simon macht aus ihrem Besuch ein Musterstück an sensibler Reportage, in dem Heute und Gestern sich so verblenden wie Hoffnung und Trostlosigkeit. Die Herangehensweisen sind höchst unterschiedlich: Henryk M. Broder lässt den Führerbunker rechts liegen, um sich in bitterbösem Sarkasmus dem Stelenfeld zuzuwenden. Andere sind sanfter, aber nicht weniger hartnäckig. Etwa Michael Rutschky in Prora, dem seinerzeit monströsen Seebad und heutigen seeschlangenartigen Spekulationsobjekt für Investoren und Musealisierer. Führungen zu Folgen des Führerstaats, Zeitreisen in der Gegenwart - well guided tours.

Stephan Porombka u. Hilmar Schmundt (Hg): Böse Orte. Stätten nationalsozialistischer Selbstdarstellung - heute. Claassen, Berlin 2005, 223 S., 18,90 EUR


War sie nun eine Lesbe? Eine dämliche Frage angesichts einer so facettierten, abgehärteten und zugleich herb romantischen Persönlichkeit: Margret Boveri - eine journalistische Legende nicht erst in den Jahren der frühen Bundesrepublik. Wahrscheinlich war Uwe Johnson der einzige, der dieser Frau wirklich intellektuell zugesetzt hat. Wenn es ein weibliches Pendant zu Ernst Jünger gibt, dann ist sie es, die Tochter eines Würzburger Zoologen und einer amerikanischen Biologin. Bei der geopolitisch Reisenden, der Amerika- als Mutterlandhasserin finden wir auf ähnlich eigentümliche Weise wie bei Jünger die Verquickung von glasklaren Zeitbeobachtungen mit verschlierten Großspekulationen - so ihr Konstrukt vom "Jahrhundert des Verrats" oder ihre blockjenseitigen Deutschlandvorstellungen nach 1945. Eine faszinierende Figur, der jetzt eine ebenso kenntnisreiche wie gut lesbare Biographie - zugleich ein Epochenaufriss - gewidmet worden ist.

Heike B. Görtemaker: Ein deutsches Leben. Die Geschichte der Margret Boveri. Beck, München 2005, 416 S., 26,90 EUR


Bücher haben ihre Geschichte - auch nach dem Film. Eine Buchgeschichte besonderer Art, ein großformatiges, kunstvolles Bilderbuch für Erwachsen(d)e hat die Grafikdesignerin Susanne Weigelt vorgelegt. Systematisch und doch zugleich bunt führt sie ins Buch ein und durch es hindurch: Von der Vielfalt der Schrift über die Arten des Papiers (die Kuhhaut nicht zu vergessen), klärt sie die Frage, seit wann man in Büchern blättern kann, geht auf Vervielfältigung, Vielfalt und Überzahl der Bücher ein, vergisst natürlich die Illustrationen und das Lesen nicht und endet - wie soll es anders sein? - mit einer Bibliographie. So bietet sie ein Optimum an Büchern im Buch: Ein Verschenk-, Blätter-, Lese- und Behaltebuch.

Susanne Weigelt: Eine Buchgeschichte. Mitteldeutscher Verlag, Halle 2005, 96 S., 18,00 EUR


Eine Handvoll Herren, die Frau Boveri kaum gepasst hätten, die aber in jungenhafter Unbekümmertheit, wie man sie damals den Amerikanern nachsagte, dafür sorgten, dass es im Westen demokratischer voranging, sind die Ritchie Boys: Exilantenkinder allesamt, kamen sie 1945 als Verhörspezialisten nach Deutschland. Geschult in Camp Richie, Maryland, in einer Ausbildungsstätte für psychologische Kriegsführung, kreatives College offenbar mehr denn Kaserne. Werner Angress, der später Geschichtsprofessor wurde und heute in Berlin lebt, Victor Brombert, später Romanist in Princeton, Philip Glaessner, der danach unter anderem für die Weltbank arbeitete, Si Lewen, anschließend bildender Künstler, Guy Stern, nachmals Professor für deutsche Literatur an der Columbia University, oder Egon Weiss, späterhin Bibliotheksdirektor der Militärakademie Westpoint. Ein sehr lebendiges Buch erinnert an diese illustre Truppe intelligenter Bewährungshelfer bei der Demokratisierung.

Christian Bauer u. Rebekka Göpfert: Die Ritchie Boys. Deutsche Emigranten beim US-Geheimdienst. Hoffmann Campe 2005, 224 S., 19,95 EUR


Leni Riefenstahls Parteitags- und Olympiafilme, Veit Harlans Jud Süß und Kolberg einerseits, die allfälligen Rökk-, Revue- und Rühmann-Filme andererseits. Das Kino der Nazi-Zeit scheint in jeder Hinsicht abgekurbelt und durchgenudelt. Unter dem treffenden Stichwort Mediale Mobilmachung hat nun der renommierte Hamburger Medienwissenschaftler Harro Segeberg Beiträge versammelt, die den Film der NS-Zeit nicht bloß wegen seiner ideologischen Instrumentalisierung observieren, sondern auch die Mobilisierung des Medialen, die Dynamisierung seiner technischen, künstlerischen und faszinatorischen Möglichkeiten besehen. Dabei ist ein zwischen Formen wie Werbe- und Lehrfilm, Wochenschau, Filmkomödie und Propagandaschinken und Themen wie Weiblichkeit, Kunst, Flugbegeisterung, große Deutsche und große Stadt, sprich: Berlin facettenreich vermittelndes, (fast) durchweg äußerst lesbar geschriebenes Grundlagenwerk entstanden.

Harro Segeberg (Hg.): Mediale Mobilmachung I. Das Dritte reich und der Film. Fink, München 2004, 427 S., 44,00 EUR


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