4. November

A–Z Anfangs erwartete man am 4. November 1989 auf dem Alex nur 30.000 Teilnehmer. Was dann passierte, weiß Erhard Weinholz, heute Autor, damals Bürgerbewegungs-Aktivist
Ausgabe 44/2019
4. November

Foto: Tom Stoddart/Getty Images

A

Atmosphäre Es war still an jenem Sonnabendmorgen in Berlin, das Zentrum der Hauptstadt des Ostens blieb bis zum Nachmittag für den Autoverkehr gesperrt. Später nirgendwo aufmunternde Marschmusik, einst Markenzeichen von Demonstrationen aller Art, und auch an Sprechchöre, wie sie in Leipzig üblich waren, kann ich mich nicht erinnern.

War die Atmosphäre von Angst erfüllt, wie ich einmal las? Dann hätte man sich besser ohne Plakat unterm Arm (Bilder) auf den Weg gemacht. Zur Volksfestlaune, von der anderswo die Rede war, fehlten für mein Empfinden lustvolles Aufkreischen, lautstarkes Gelächter. Die Freude, so habe ich es manches Mal gehört, mischte sich mit dem Feierlichen, das über dem Ganzen lag, man hatte den Eindruck, historisch Bedeutsames zu erleben: Der Drache war erledigt, und das stimmte und stimmte auch nicht. An das Festtägliche der Atmosphäre damals erinnert mich alle paar Jahre die Stimmung an den Sonntagen der Bundestagswahl.

B

Bilder Die deutsche Arbeiterbewegung liebte ihre Führer, jedenfalls die selbst erwählten, und schmückte aus freien Stücken mit ihrem Bild Kalender, Abzeichen und sogar Pfeifenköpfe. Später wurde die Verehrung Pflicht, die Bildnisse wurden an die Wand gehängt oder an Stangen genagelt und bei diversen Umzügen hochgehalten. Am 4. November geschah das nur noch zu satirischen Zwecken: Krenz als Rotkäppchen-Wolf im Großmutterbett, das hat ihm viel geschadet. Das Volk wollte keine heimischen Vorbilder, keine Lokal- und vor allem – wie schon 1848 und 1918 – keinen Nationalhelden. Spricht antiautoritärer Sinn daraus? Oder eher der Kleingeist? Richtig gefeiert wurden nur die Gäste, Gorbatschow im Oktober und im Dezember Kohl. Ein Comic aus dem Osten führt ihn auch als Revolutionshelden vor: Seinem Rammbock hält die Mauer nicht stand.

G

Genehmigung Der Termin dieser Demonstration war, wie kurz darauf die Maueröffnung, glückliche Folge einer Fehlinformation. Auf Anregung des Neuen Forums hatten Theaterleute im Oktober beschlossen, zur Demonstration für einige nur auf dem Papier stehende Bürgerrechte aufzurufen und dafür bei der Polizei ganz regulär einen Veranstaltungsantrag zu stellen – sozusagen als Testballon. Zum 4. November? Etwas knapp für die formell zuständige VP-Inspektion Mitte. Also zum 19. Wer weiß, welchen Lauf alles genommen hätte, wäre es dabei geblieben. Der frühere Termin war sofort publik geworden, die Polizei genehmigte auch ihn. Dass sie es überhaupt tat, war ein Novum; sie hatte sich natürlich bei der Stasi rückversichert.

Von der späteren Größe und Bedeutung der Sache ahnte niemand etwas: Mit höchstens 30.000 Demonstrierenden rechneten die Veranstalter laut Antrag (Zweihunderttausend). Ein Berliner Historiker behauptete unlängst in der FAZ: An jenem 4. sei es, anders als zuvor, um systemimmanente Reformen gegangen. Und zwar in genehmigter Form (!). Was Sieg war, soll nun Makel sein.

K

Kundgebung „Sag mir, wo du stehst“, hatte der Oktoberklub einst verlangt. Also: Wir hier in der DDR standen meist im konsumtiven Eigeninteresse Schlange oder im politischen Interesse anderer Spalier. Am 4. November aber hatten wir uns erstmals in solcher Zahl aus politischem Eigeninteresse versammelt. Noch war der Dialog Volk/Führung angesagt, doch bei der Schlusskundgebung auf dem Alex spendeten wir nur DDR-KritikerInnen Beifall. Systemvertreter, Schabowski, Markus Wolf, auch wenn sie den Reformer gaben, wurden, Dialog hin, Dialog her, ausgepfiffen. Schon im Vorfeld hatten die Veranstalter klargestellt: Hier ging es nicht um eine bloße Manifestation, sondern um Protest.

L

Losungen Letztmals vielleicht war an jenem Tag auf der Tribüne viel vom demokratischen Sozialismus die Rede. Die Losungen auf dem Platz sprachen seltener davon. Oft richteten sie sich gegen die Allmacht der SED; freie Wahlen waren die relativ häufigste der positiven Forderungen. Ihre Breite, ihre Konkretheit zeigt: Hier mühte man sich um eine andere DDR. Später findet sich dieser Geist im Verfassungsentwurf des Runden Tisches, der weder auf Sozialismus zielte noch Abklatsch des Grundgesetzes wurde. Was damals bedacht wurde, ist, so scheint mir, aktuell geblieben. Wer die deutsche Einheit wollte, hatte es leichter, Fahnenschwenken reichte.

M

Mythen Seit 1848 gehen Revolutionen hierzulande mit Mythen einher. Im Oktober 89 hieß es zum Beispiel im SED-Bezirksblatt Märkische Volksstimme, an der ersten, noch sehr kleinen Protestdemonstration in Potsdam hätten sich unter anderem Störenfriede aus Magdeburg beteiligt: Das Böse kommt immer von draußen; mit den Magdeburgern hatten die Märker schon im Mittelalter Ärger.

Manche Revolutionäre haben Visionen, wollen am 4. November Käthe Reichel auf der Rednertribüne gesehen haben, erinnern sich, dass sie aufgeregt war, lassen sich von der überlieferten Rednerliste nicht beirren. Trau also keinem, der dabei war! Und bei einem medial fast allgegenwärtigen BStU-Mitarbeiter las ich einmal, man habe damals gegen die SED, nicht aber gegen den Sozialismus demonstriert, weil man Angst gehabt habe, die Panzer könnten sonst doch noch rollen. Nicht nur in Bremer Rats-, auch in Berliner Aktenkellern waltet Fantasie.

P

Provinz Man kann sich den Herbst ’89 auch als Wettstreit vorstellen, als Kampf gar zwischen Hauptstadt und Provinz, südlicher Provinz vor allem: Die Leipziger gehen auf die Straße, von Montag zu Montag in wachsender Zahl, und Berlin? Schickt am 7. Oktober einige Tausend los und amüsiert sich dann wieder bei Bockwurst und Weißbier im Prater, im Plänterwald und am Wasser in Grünau. Nicht nur bei Bockwurst; Berlin ist privilegiert, kriegt sogar jene gelbschalige Frucht zugeteilt, deren Verzehr zur ewigen Seligkeit verhilft (ich habe sie aus Prinzip links liegen lassen, sie war mir auch zu teuer).

Hat Berlin sich korrumpieren lassen? Nein. Heimlich sammelt sich die Hauptstadt, und dann: 4. November, wir sind die Größten! (Weltniveau) Leipzig brauchen wir nicht mehr, machen unsern Dreck alleene! Doch Berlin hat sich verrechnet, kommt selbst mit „Für unser Land“ nicht an gegen „Deutschland einig Vaterland“, den Ruf, der wenig später allerorts aus dem Süden schallt.

R

Reform Beifall bekommt Gregor Gysi, als er vorschlägt, aus dem Russischen das Wort perestrojka zu übernehmen, Umgestaltung also oder Reform. Die Versammelten scheinen nicht zu wissen, dass selbst in der Perestrojka nicht das Volk das letzte Wort hat, sondern wie eh und je die Partei.

Als Krenz-Verteidiger dagegen wird er ausgepfiffen. Dabei ist noch nicht einmal klar, dass andere als Erichs Kronprinz am 9. Oktober in Leipzig den Frieden gerettet haben. Pfiffe verdient hätte er auch, als er sich für die Führungsrolle der SED ausspricht: Im Sinne Lenins verstanden ist sie Basis bisheriger Parteiherrschaft. Doch ob er auf demokratische oder auf autokratische Führung setzt, macht er uns nirgends so recht deutlich.

S

Schutzwall, antifaschistischer: Deckname der Mauer; sollte den Realsozialismus vor bösem Westwind schützen. Manch Linker meint sonderbarerweise, er habe auch den Aufbruch hin zum freiheitlich-demokratischen Sozialismus beschirmt, als dessen Höhepunkt die Demonstration vom 4. November gilt. Fünf Tage später habe sich das Blatt leider gewendet. Dabei müsste doch klar sein, dass Entwicklungen, die die Mauer brauchen, nicht von Bestand sein können, dass Freiheit und Mauer nun einmal nicht zusammenpassen und dass es die Idee eines besseren Sozialismus rettungslos diskreditiert hätte, wäre man in ihrem Namen für die Mauer aufgetreten. Wenn aus einer anderen DDR nichts wurde, lag das nicht am Mauerfall, sondern an den Ausgangsbedingungen dieser Revolution.

U

Umsturz Oder wäre es am 4. November noch möglich gewesen, durch Umsturz die Weichen anders zu stellen? Man hätte doch, so hörte ich einmal, zum Molkenmarkt ziehen, Stoph die Schlüssel abverlangen und eine Revolutionsregierung einsetzen können. „Tut uns leid, der Genosse Ministerpräsident ist dienstlich unterwegs, kommse Montag wieder …“ Wäre es auch ohne Schlüssel gegangen? Man hätte ja die Medien benachrichtigen und die Regierung dann im Freien bilden können. Doch wer sollte die Kandidaten für die Ämter bestimmen? Das demonstrierende Volk per Zuruf? „Neues Forum zulassen“, die Forderung war oft zu lesen an jenem Tag. „Neues Forum an die Regierung“ meines Wissens nicht.

W

Weltniveau Westniveau sei noch nicht Weltniveau, erklärte man uns zu DDR-Zeiten. Manchmal stimmte es sogar. 1983 protestierten mehr als eine halbe Million in Bonn gegen den NATO-Doppelbeschluss; die Demonstration vom 4. November aber war mit ihren etwa 500.000 Beteiligten nicht nur die größte dieses Herbstes, sondern auf die Bevölkerungszahl umgerechnet die größte der deutschen Geschichte. Sie war eine Großtat, die aber, das kommt selten vor und hat etwas Tragisches an sich, wenig bewirken konnte. Für die Mühsal des eigenen Weges fand sich auf Dauer keine Mehrheit.

Eines immerhin wird man besser begreifen, wenn man gesehen hat, wie die Massen aus eigenem Antrieb in gewaltiger Breite unablässig heranfluten, vorbeifluten, ohne Anfang, ohne Ende: Revolutionen sind Elementar-Ereignisse im Leben eines Volkes. Es dauert oft lange, bis es in Bewegung kommt. Dann aber lässt es sich in seiner Wegrichtung kaum mehr beeinflussen, strebt Zielen zu, die es anfangs noch gar nicht kannte.

Z

Zweihunderttausend Waren denn zu jener Demonstration für eine bessere DDR überhaupt mehrere Hunderttausend gekommen? Der erwähnte BStU-Mitarbeiter bezweifelt es: Leider, leider passen auf den Platz und in sein Umfeld nur 200.000. Eine Milchmädchenrechnung zwar, wie mir scheint, denn es war ein ständiges Kommen und Gehen dort während der dreistündigen Kundgebung.

Doch die Staatsideologie braucht nach wie vor die Illusion, dass dieses und jenes untrennbar zusammengehört. Einst waren es Krone und Volk, dann Volk und Partei, heute sind es Freiheit und Einheit. Das passende Nationaldenkmal ist schon geplant. Was das Wunschbild beschädigt, muss man, wenn sich sonst nichts bietet, wenigstens kleinreden und diskreditieren. Es halten aber immer noch viele an den damaligen Grundzielen fest. Vielleicht melden sie sich einmal zu Wort.

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Dieser Beitrag ist Teil unserer Wende-Serie 1989 – Jetzt!

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