Die Leiden des alten Europäers

Porträt Jean-Claude Juncker regiert die EU mit einer Großen Koalition und einem Augenzwinkern. Nun gerät er unter Druck
Ausgabe 27/2016
Seit dem Brexit wirkt der Chef der EU-Kommission angeschlagen
Seit dem Brexit wirkt der Chef der EU-Kommission angeschlagen

Foto: John Thys/AFP/Getty Images

Sein Humor ist legendär. „Hallo, Diktator“, grüßte Jean-Claude Juncker den ungarischen Regierungschef Viktor Orbán mitten im Streit um die Flüchtlingspolitik. „Was machen Sie denn noch hier“, raunzte Juncker den britischen EU-Gegner Nigel Farage an, als der sich nach dem Brexit-Votum im Europaparlament blicken ließ. Danach umarmte er ihn.

Ein launiger Spruch, ein Augenzwinkern, dann ein Küsschen oder ein Klaps auf die Schulter – das macht Juncker immer so. Ob Freund, ob Feind, der Chef der EU-Kommission geht auf Tuchfühlung. Mit Witz und Körperkontakt stellt Juncker eine persönliche Beziehung her. Es ist, als wollte er aller Welt zeigen, dass er der Vater der großen europäischen Familie ist. In den ersten beiden Jahren seiner Amtszeit funktionierte das ganz gut. Juncker wickelte sowohl die deutsche Kanzlerin Angela Merkel als auch den griechischen Ministerpräsidenten Alexis Tsipras um den kleinen Finger. Er setzte seinen Plan – ein milliardenschweres Investitionsprogramm – gegen deutschen Widerstand durch und lockerte den Stabilitätspakt für den Euro.

„Dies ist die Kommission der letzten Chance“, begründete der Luxemburger seine unorthodoxen Vorstöße. Wenn es in den fünf Jahren seiner Amtszeit nicht gelinge, die Krise der EU zu überwinden, dann sei die Union erledigt. Niemand widersprach. Dass Juncker seine Behörde als „politische Kommission“ bezeichnete und damit einen Machtanspruch verband, fiel zunächst kaum auf. Schließlich wurde die Kommission gebraucht – erst im Schuldendrama um Griechenland, dann im Flüchtlingsstreit um Deutschland. Juncker war es, der Merkel im vergangenen Herbst den Rücken frei hielt. Auf dem Höhepunkt der Krise war er ihr letzter verlässlicher Partner. „Zu wenig Europa, zu wenig Union“, klagte er – und stellte sich hinter die Kanzlerin.

Plötzlich auf der Anklagebank

Orbán umarmen, Merkel stützen: Das war ein typisches Juncker-Manöver. Auch bei der nächsten Krise, dem Streit um das britische EU-Referendum, schaffte Juncker den Spagat. Ausgerechnet dem britischen Premier David Cameron, der Junckers Nominierung zum Kommissionschef mit allen Mitteln verhindern wollte, räumte die EU-Kommission ein paar neue Extrawürste ein. Juncker stellte eine „Task-Force“ auf, die Zugeständnisse an Cameron wie die „Notbremse“ für EU-Migranten oder die „rote Karte“ für EU-Gesetze ausarbeitete. Danach leistete er auch noch verbale Schützenhilfe. „Einen Deserteur empfängt man nicht mit offenen Armen“, warnte Juncker die EU-Gegner auf der Insel.

Gedankt hat man es ihm nicht, im Gegenteil. Nun, nach dem Sieg der Brexiteers, sitzt Juncker plötzlich auf der Anklagebank. Die einen wollen seinen Rücktritt, weil er zum Symbol einer gescheiterten Union geworden sei. Andere sind empört, weil er einen schnellen Brexit fordert. Rachegelüste wirft man ihm vor, ausgerechnet ihm, dem dienstältesten und überzeugtesten Europäer aller Europäer!

„Schauen Sie sich meinen Lebensweg an, dann kommen Sie zu anderen Erkenntnissen“, schießt Juncker zurück. Eigentlich aber weiß jeder in Brüssel, dass der 61-Jährige schon Europa gelebt hat, als Merkel noch „das Mädchen“ war. Juncker, das war der Taktgeber im deutsch-französischen Motor, das ist die „immer engere Union“ in Person.

Doch der Motor stottert. Ohne es zu merken, ist Juncker vom Symbol der europäischen Einigung zum Sündenbock für alle Missstände in der EU geworden. Besonders deutlich wird dies bei einem Thema, mit dem er, der Generalist und Überflieger, nur am Rande zu tun hat: beim Streit über das Freihandelsabkommen mit Kanada. CETA sei kein gemischtes Abkommen mit Beteiligung der nationalen Parlamente, sondern unterliege allein europäischer Gesetzgebung, teilte Juncker auf dem EU-Gipfel mit und handelte sich damit viel Kritik ein, unter anderem auch aus Deutschland. Das sei ihm „schnurzpiepegal“, frotzelte Juncker. Pech für den eigensinnigen Luxemburger: Angesichts des massiven Widerstands musste die Kommission einlenken. Nun stimmen doch die nationalen Parlamente über das Abkommen ab.

In der Falle

Kritiker von Juncker verweisen auf seine Zeit als Eurogruppenchef, wo er undemokratische Manöver einfädelte und mittrug. „Wenn es ernst wird, muss man lügen“, sagte er damals. Später kam noch der Lux-Leaks-Steuerskandal hinzu. Seither ist er für viele unglaubwürdig. Aber auch von den Regierungen kommt Druck. Vor allem die Hardliner in der Eurogruppe, Jeroen Dijsselbloem und Wolfgang Schäuble, greifen Juncker frontal an. Sie werfen ihm einen laxen Umgang mit den Defizitregeln vor.

Juncker sitzt in der Falle. Dabei hat er alles getan, um sich zu schützen. Viermal täglich studiert er den hauseigenen Pressespiegel, um jede Regung der öffentlichen Meinung zu registrieren. Heikle Themen delegiert er an Frans Timmermans, seinen Vizepräsidenten. Alle wichtigen Initiativen spricht er mit Martin Schulz ab, dem Chef des Europaparlaments. Der Christdemokrat Juncker regiert Brüssel mit einer Großen Koalition nach deutschem Muster – denn sowohl Timmermans als auch Schulz sind Sozialdemokraten. Und er stützt sich auf einen deutschen Spindoktor, den Ex-Bertelsmann-Berater Martin Selmayr.

Doch die vermeintlich starke Stellung hat sich als Schwäche erwiesen. Timmermans macht zu viel, Selmayr „spinnt“ zu viel, Schulz redet zu viel. Das schadet dem Chef. Er wirkt abwesend, manchmal auch abgehoben. Seit dem Brexit-Votum ist er angeschlagen, die Angriffe häufen sich.

An einen Rücktritt denkt er dennoch nicht. Er sei „weder müde noch krank“ und werde „bis zum letzten Atemzug für die geeinte EU kämpfen“. Witzig klingt das nicht, sondern verdammt ernst. Langsam scheint sogar Juncker das Lachen zu vergehen.

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