Prekarität des "nackten" Lebens

Nicht verwertbar Gesellschaftliche Gruppen, die keinen oder nicht genug ökonomischen Erlös erzielen können, leben unter immer unwürdigeren Bedingungen

Mit prekär bezeichnet man nicht nur ungesicherte Niedriglohnarbeitsverhältnisse. Die Erosion des Sozialstaats überlässt ganze Bevölkerungsgruppen einer prekären Existenz. Unsichere Lebenssituationen werden dauerhaft und machen die Menschen erpressbar. Zunehmend leben Alte, Kranke und Behinderte, die nicht privat abgesichert sind, verarmt in prekären Verhältnissen.

Unbegrenzte Arbeitslosigkeit galt lange als begrenztes Phänomen in Sozialhilfeghettos oder als Teil der Lebensform allein erziehender Mütter und ihrer Kinder. Nun wächst die Zahl der für "überzählig" Erklärten auf ein neues Normalmaß - auf hohem Niveau. Ihr Ausschluss findet in der Gesellschaft statt. Wer seine Arbeitskraft noch anbieten kann, muss dies zunehmend unter prekären Verhältnissen tun und sich in einer Art Selbstverwertungswettbewerb als flexibel beweisen. Wer das nicht schafft, findet sich entweder in der Position des Sozialhilfe-Empfängers oder des Langzeitarbeitslosen wieder, konfrontiert mit Zwangsarbeit zu Niedrigstpreisen und mit der Pflicht, die Lebensverhältnisse offen zu legen, um noch Rechtsansprüche auf minimale staatliche Leistungen zu haben.

Die "Überzähligen" und "Überflüssigen" sind jedoch kein neues Phänomen im Kapitalismus, an dessen Beginn die vagabundierenden Armen aus der ländlichen und städtischen Produktion des 19. Jahrhunderts standen. Empirisch sind es auch heute vorwiegend die Unterklassen, die vom regulären Arbeitskraftverkauf ausgeschlossen werden. Doch heute fühlt sich eben jede/r bedroht - und zwar individuell. Die Identitäten, die sich in diesem allgemeinen Bedrohungsszenario ausbilden und ausbilden sollen, orientieren sich weniger an Kollektiven und Klassen, als vielmehr an individuellem Versagen und Gelingen. In dem Maße, in dem Erwerbsbiografien prekär werden, wird "Arbeit" als "Wert" und als "Selbstwert" immer wichtiger. Gleichzeitig sind Erwerbslosigkeit und Armut nicht mehr entlegitimiert, sondern sie werden als gesellschaftlicher Normalfall kommuniziert. Der disziplinierende Charakter der Lohnarbeit wird durch Kontrolle der Sozial-Agenturen und Ein-Euro-Jobs ersetzt. Soweit zur Kategorie der Arbeitsfähigen und erwerbslosen Armen, die zwar von Lohnarbeit ausgegrenzt, aber zeitgleich in Sozialbürokratie und Billiglohnsektoren eingebunden werden.

Was aber ist mit jenen, die nicht einmal mehr zum Objekt der üblichen Ausbeutung taugen - den Alten, kranken Betagten, chronisch Kranken oder Menschen mit Schwerstbehinderungen? Sie leben nicht erst seit heute jenseits der regulären kapitalistischen Verwertungszonen.

Billiglohnland Behinderten-Werkstatt

Schwerbehinderte sind schon lange vom regulären Arbeitsmarkt ausgeschlossen. Ihre Beschäftigungsquote liegt in Privatunternehmen bei 3,4 Prozent, im öffentlichen Dienst zwischen fünf und sechs Prozent. Nur ungefähr die Hälfte der Schwerbehinderten ist überhaupt noch im erwerbsfähigen Alter - und dann einer massiven Armutsgefahr ausgesetzt. Viele Betriebe zahlen lieber Ausgleichsabgaben von 100 bis 250 Euro, statt die vorgeschriebene Schwerbehinderten-Beschäftigungsquote von sechs Prozent einzuhalten. Oder: Sie drücken diese Abgaben, indem sie externe Aufträge an Werkstätten für Behinderte (WfB) vergeben. Diese Lösung ist gewissermaßen ideal, sind doch die Werkstätten eine Art Billiglohnland vor der Haustür. Knapp 1.300 Produktionsstätten mit mehr als einer halben Million Beschäftigten gibt es hierzulande. Nach dem Schwerbehindertengesetz müssen die dort Tätigen "ein Mindestmaß an wirtschaftlich verwertbarer Arbeitsleistung" erbringen, die in einem "Arbeitstrainingsbereich" für ein Entgelt von rund 50 Euro ermittelt wird. Als "leistungsfähig" eingestuft, bekommen die zu 80 Prozent als geistig behindert klassifizierten Werkstattbeschäftigten jedoch keinen Lohn, denn das Arbeitsverhältnis wird nicht als "Erwerbsarbeit" angesehen. Sie arbeiten für einen einheitlichen Grundbetrag und - allerdings ohne Rechtsanspruch - eine leistungsabhängige Prämie. Für 150 bis 190 Euro dürfen jenseits der regulären Verwertungszone "einfache Arbeiten mit minimalem Anforderungsspektrum" in einem, dem "Erwerbsleben ähnlichen" Arbeitsalltag ausgeführt werden. Da werden Schrauben und Muttern montiert oder Tüten geklebt. Für die "Leistungsfähigen" soll Arbeit normale Erwerbsbiografien imitieren, für die weniger "Leistungsfähigen wird Arbeit als "Therapie", "Pädagogik" und "Selbstwertsteigerung" interpretiert. Ansprüche, die sich auf individuelle Fähigkeiten und Weiterbildung beziehen, bleiben mit steigender Ökonomisierung dieses "Billiglohnsektors" auf der Strecke.

Altersbezogener Ausschluss von Lohnarbeit führt nicht automatisch ins gesellschaftliche Abseits. Die Ansprüche an staatliche Rentenleistungen werden limitiert, gleichzeitig aber wird die "Wirtschaftskraft Alter" identifiziert. Wer über genügend Kaufkraft verfügt, kann sich mit altersgerechtem Tourismus, mit Fitness-Kursen und Anti-Aging-Programmen beschäftigen. Es gibt auch "Seniorenmarketing" als "Querschnittsthema", um das Interesse an den neuen Produkten und Diensten zu aktivieren. Problematisch wird es für die armen und kranken Betagten, die sozialstaatliche Leistungen in Anspruch nehmen. Im populären Diskurs wird der "Krieg der Generationen" beschworen, die "demographische Falle" als Zukunftsdrohung mit unbezahlbaren Gesundheitsleistungen inszeniert. So werden gesellschaftliche Verteilungsprobleme in "biologische" Kategorien umgedeutet und die "Politisierung des nackten Lebens" (Giorgio Agamben) wirklichkeitsmächtig. "Lösung" verspricht die "altersbezogene Rationierung".

Dieser Diskurs ist alles andere als nur "populär". Bio-Ethiker und Ökonomen versuchen sich an wissenschaftlich begründeten Kriterien, um alten Menschen medizinische Behandlungen zu verweigern. Beispielsweise der Konstanzer Ökonom Friedrich Breyer und der Duisburger Bio-Ethiker Hartmut Kliemt, die sich ein öffentlich finanziertes Forschungsprojekt zu "Altersbezogener Rationierung von Gesundheitsleistungen im liberalen Rechtsstaat" ausgedacht haben. Das Alter schaffe "als Abgrenzungskriterium bei lebenserhaltenden Maßnahmen (...) Transparenz" - und sorgte damit für Rechtssicherheit, heißt es. Das kalendarische Lebensalter hat somit die Vorteile, die Institutionen brauchen: Es ist objektiv, homogen und schon heute Teil etablierter "Rationierungsmuster". Die weitere Begründung des Ökonomen für den altersbezogenen Ausschluss von medizinischen Leistungen "beruht ganz wesentlich auf der Annahme, dass die Erwartungen auf zukünftigen Konsum die entscheidende Quelle für Lebensfreude sind. Je älter der Mensch bereits ist, desto weniger zukünftiger Konsum liegt noch vor ihm, um so weniger kann er noch gewinnen, wenn er seine augenblickliche Überlebenschance steigert."

Kalkulierte Unterversorgung in der Pflege

Auch der ganz konkrete Alltag wird zum Kampf um Versorgung und Überleben. Rund zwei Millionen Pflegebedürftige werden zu einem Gutteil über die Pflegeversicherung versorgt. Abhängig von der Pflegestufe kostet ein Heimplatz in einem einfachen Alten- und Pflegeheim zwischen 1.400 und 3.500 Euro. Bei den derzeitigen Pflegesätzen zwischen 1.023 (Pflegestufe I) und 1.432 Euro (Pflegestufe III) heißt das, die Differenz muss über die Rente, Familienangehörige oder die Sozialhilfe ausgeglichen werden. Wer wenig Geld hat oder seinen eigenen Lebensabend über das Erbe zu sichern hofft, versorgt Angehörige zu Hause und ohne Unterstützung durch ambulante Dienste. Die meisten Pflegebedürftigen werden von Frauen versorgt, die mit ihrer unsichtbaren Arbeit das Familienbudget aufbessern. Innerhalb weniger Jahre, so die Ergebnisse einer europaweiten Befragung von Angehörigen, sind 90 Prozent der Befragten ausgebrannt, sozial isoliert oder sie stehen vor dem finanziellen Ruin.

Die Umstände in den Altenheimen sind dramatisch. Das Pflegepersonal hat mit deutlich mehr altersverwirrten BewohnerInnen zu tun. Gleichzeitig ist die Altenpflege mit mehr und mehr PatientInnen konfrontiert, die immer früher aus den Krankenhäusern entlassen werden. Nach dem Abrechnungsmodus mit diagnosebezogenen Fallpauschalen (DRG), nach denen viele Kliniken ihre Leistungen abrechnen, muss zumindest der "normal" Betagte innerhalb statistischer Normwerte gesunden. Um das Budget des Krankenhauses nicht zu belasten, wird er oder sie nach Norm-Liegezeiten zügig entlassen. Die Versorgung wird auf un- oder schlecht bezahlte Frauen, auf Pflegedienste und Heime abgewälzt. In rund 9.000 Altenheimen, die 600.000 Betagte versorgen, sinkt die Fachkraftquote aber oft unter die vorgeschriebene 50 Prozent Marke. Notwendige Pflegefachkräfte werden nicht eingestellt, statt dessen Vollzeitstellen abgebaut.

Die chronische Personalknappheit und die Konditionen der Pflegeversicherung reduzieren die Begegnung mit den HeimbewohnerInnen auf eine rein körperliche Grundversorgung - die allerdings auch nicht mehr gewährleistet ist. Die Folgen: Wundliegen, Verkrampfungen, Infektionen. Der Medizinische Dienst der Krankenkassen (MDK) konstatierte für das Jahr 2003: Jede fünfte Magensonde bei HeimbewohnerInnen ist nicht nötig, sondern eine pflegerationierende Maßnahme bei Menschen nach Schlaganfall oder mit Demenz. Schlucktraining und normales Essen wären auch ohne Magensonde möglich. Das aber, so der MDK, wird "eher selten beobachtet", wenn sich die Grunderkrankung nicht schnell und deutlich verbessere. Von den mehreren tausend PatientInnen in der extremen Lebenssituation des Komas hat nur jede/r vierte Betroffene die Chance, in einer qualifizierten Pflegeeinrichtung unterzukommen. Diese Kranken sind auf Sondenernährung angewiesen. Die existenzielle Frage, ob die Kosten dieser Ernährung weiterhin übernommen werden, steht regelmäßig auf der gesundheitspolitischen Agenda.

Die sozialpolitischen Strategien rund um die Versorgung der Kranken und Betagten gehen ebenso wenig spurlos an den Individuen vorbei, wie die Diskurse und Verteilungskämpfe um Arbeit und Lohn. Die neoliberal Erzogenen sollen ihre "Eigenverantwortung" mobilisieren. Ihr Wohl und Weh, ihre Karrieren und ihre Abstürze gelten als individuell verursacht. Privat wird auch die Vorsorge in Form von privater Rentenversicherung, Immobilienerwerb oder Börsenspekulation. Im freien Spiel des Marktes kann nur erfolgreich handeln und wirtschaften, wer sich als "souveräne Willensperson" versteht.

Jenseits der regulären, prekären und zwangsverordneten Verwertungszonen, abseits der Konsumfähigkeiten und Kaufkraftpotenziale für einen wachstumsorientierten Markt der Konsumgüter und Gesundheitsindustrie, wird die pure physische Existenz "prekär" - und zur politischen Verhandlungssache.

Beitrag von der Redaktion gekürzt. Er erschien zuerst in Fantômas 06/05. Erika Feyerabend ist Journalistin und engagiert im BioSkop-Forum zur Beobachtung der Biowissenschaften.


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