Auch wenn mein Herz voller Trauer ist, ich werde jetzt nicht heulen und all das erzählen, was mit meiner Tochter passiert ist.” Einen kurzen Moment wird die Stimme brüchig, und Maria del Carmen Urías unterbricht sich kurz, nimmt sich eine kleine Pause zum Luftholen. Dabei rückt sie sich selbst zurecht, streicht kurz durch ihre festen dunklen Haare, über das glatte Gesicht, rückt den Stuhl näher an den Tisch heran, streicht mehrmals mit ihren Händen über die Platte, als ob sie Staub wegwischen wollte. Maria del Carmen Urías hat ihre Tochter verloren. Mayra Haydeé Chután Urías war 15, als sie im „Hogar Seguro“, einem staatlichen Jugendheim in einem Vorort von Guatemala-Stadt, verbrannte. Eines von 41 Mädchen, die in diesem „Sicheren Hort“ ums Leben kamen. 15 Mädchen überlebten das Inferno schwer verletzt.
Die Opfer waren Kinder armer Eltern. Mädchen, die von zu Hause weggelaufen waren, weil sie misshandelt, sexuell missbraucht oder zur Prostitution gezwungen wurden. Oder die einfach der Armut entfliehen wollten. Rebellische Mädchen, deren Eltern nicht mehr mit ihnen fertig wurden und das Jugendamt um Hilfe baten. Sie alle waren in diesem Heim untergebracht, dem „Hogar Seguro de Virgen de la Asunción“ in San José Pinula. Dort sollte ihnen pädagogisch geholfen werden, stattdessen gab es Übergriffe, immer wieder stand das Heim im Fokus, wurden Klagen über Misshandlungen und sexuelle Nötigung laut. „Bitte, hol mich hier raus“, hatte Mayra ihre Mutter im Oktober 2016 angefleht. Maria del Carmen hatte es versucht, scheiterte jedoch an der Ignoranz der Bürokratie, an Mitarbeitern staatlicher Institutionen, die Menschen wie sie nicht ernst nehmen, sie Stunde um Stunde warten ließen, um sie dann mit leeren Händen nach Hause zu schicken. Um ihre Tochter aus dem Heim zu holen, nahm Maria del Carmen alles auf sich, auch wenn sie weder das System, noch dessen Logik verstand. „Ich solle Geduld haben, sagten sie mir immer wieder. Aber weshalb sollte ich Geduld haben, wenn ich sah und fühlte, wie meine Tochter leidet?“
Umzingelt von Nationalpolizei
Am 7. März 2017 versucht eine größere Gruppe von Mädchen gemeinsam mit ein paar Jungen aus einem benachbarten Heim zu fliehen. Eine anrückende Einheit der Nationalpolizei hat sie schnell umzingelt. Alle werden zurückgebracht und sehen sich bald einer unfassbaren Strafaktion ausgesetzt. Einen Tag später werden 56 Mädchen im „Hogar Seguro“ in einen Raum mit einer Fläche von gerade 48 Quadratmetern eingesperrt, weniger als ein Quadratmeter pro Mädchen. Über Stunden bleiben sie ohne Essen, ohne Wasser, ohne die Möglichkeit, zur Toilette gehen zu können. Die Mädchen rebellieren und schreien, doch es ist aussichtslos.
Man muss vor den Augen der anderen seine Notdurft verrichten, ist Gestank und Scham ausgesetzt, von Verzweiflung erfasst. So entsteht die Idee, ein Feuer zu legen. Darauf, so glauben sie, müssen die Wärter reagieren und sie endlich rauslassen. Ein verzweifelter Gedanke, ein verheerender, tödlicher Irrtum. Die Hoffnung auf Befreiung zerschellt an eiskalter Gleichgültigkeit. Kein Schlüssel taucht in den Händen des Wachpersonals auf. Kein Rettungsinstinkt erschüttert den tödlichen Bestrafungswillen. Lange neun Minuten nach Ausbruch des Feuers bleibt die Tür verschlossen. 41 Mädchen ersticken und verbrennen. Es gibt kein Entrinnen. Sie werden mit dem Tode bestraft – dafür, dass sie dem „Sicheren Hort“ und seinen unsäglichen Erniedrigungen entkommen wollten. Dass sie das oft verdorbene Essen nicht mehr ertrugen. Nur 15 Mädchen werden lebend aus der Massenzelle geborgen, gezeichnet an Körper und Seele.
Mayra Haydeé, die Tochter von Maria del Carmen, ist unter den Toten. Sieben Tage vor dem Brand war sie 15 Jahre alt geworden. Mayra sei in diesem Heim gelandet, „weil wir arm sind“, erzählt Maria del Carmen. Wie an vielen anderen Tagen zuvor, sitzt sie auf der Zuschauerbank eines Gerichtssaals im Justizpalast von Guatemala-Stadt. Noch gibt es keine Urteile gegen die Verantwortlichen der Brandkatastrophe, einen Teil des Aufsichtspersonals. Doch Maria del Carmen gibt die Hoffnung nicht auf, dass es irgendwann soweit sein wird. Deshalb setzt sie sich in diesen Raum und lässt die Einlasskontrollen über sich ergehen. Jedes Mal, sagt sie, koste es viel Kraft, dem Prozess zu folgen, wenn die Ereignisse vom 7. und 8. März 2017 detailliert aufgerollt würden. Dann schaue sie zu den Angeklagten, suche deren Augen und unterdrücke die Schreie in sich, die Wut und den Schmerz. Sie suche die Augen der Menschen, die ihre Tochter hätten retten können, wenn sie das gewollt hätten.
Maria del Carmen ist eine einfache Frau. Die langen dunklen Haare trägt sie streng nach hinten gekämmt. Sie ist Analphabetin und wie so viele unter den Ärmsten der Armen Guatemalas eine Maya-Frau. Einmal putzt sie für andere, dann wäscht sie für reiche Familien oder verkauft Obst und Gemüse. Doch das wenige Geld, das sie für ihre Arbeit bekomme, reiche nie wirklich für sie und die Kinder. Es seien insgesamt acht, die sie großgezogen habe. Mayra war ihr sechstes Kind. Die Tochter habe im September 2016 das Haus verlassen, um sich Arbeit zu suchen. „Sie wollte mich unterstützen und sich selbst etwas kaufen können. So wie andere Mädchen.“
Doch dann sei sie plötzlich verschwunden, eine ganze Woche lang habe sie nach ihrer Tochter vergeblich gesucht, sodass eine Suchanzeige bei der Polizei gestellt werden musste. Sie sei davon ausgegangen, erzählt Maria del Carmen mit belegter Stimme, dass Mayra, sollte sie gefunden werden, zu ihr zurückgebracht werde. Tatsächlich wird Mayra, ohne dass die Mutter davon erfährt, direkt nach San José Pinula gebracht. Es dauert zwei Wochen, bis Maria del Carmen endlich mitgeteilt wird, wo sie Mayra finden könne. Zuvor war sie Tag für Tag von einem Büro zum nächsten gefahren, wurde von einem Richter zum nächsten geschickt, musste um die für viele Busfahrten nötigen Quetzales bei den Nachbarn betteln. Als sie endlich weiß, dass Mayra im „Hogar Seguro“ ist, fährt sie in dem Glauben dorthin, die Tochter gleich mitnehmen und wieder in ihre Armen schließen zu können. Weit gefehlt. Mayra sei in diesem Heim, wird ihr zwar bestätigt, aber ohne Besuchserlaubnis könne sie ihre Tochter nicht sehen.
Würmer im Essen
Die Erlaubnis könne nur das Vormundschaftsgericht erteilen. Wieder muss sie hin- und herfahren und Fahrtkosten aufbringen, die sie eigentlich nicht hat. Was sie erlebt, sind Schikanen und der entwürdigende Umgang der Behörden mit einer Mutter, die seit einem Monat ihre Tochter sucht, sich nicht wehren kann und daran zu verzweifeln droht.
Als Maria del Carmen die Tochter dann endlich wiedersehen kann, fleht Mayra die Mutter an: „Bitte unternimm, was du kannst, damit ich hier raus kann. Sie behandeln uns so schlecht. Ich verspreche dir, gleich Arbeit zu suchen, um dir alles zurückzuzahlen, was du an Kosten hattest.“ Mayra erzählt, dass sie nachts geweckt und aus den Betten gezerrt würden, dass sie Männern Sexdienste leisten müssten. Und sie berichtet von Schlägen, von Würmern im Essen, vom Eingesperrtsein. Maria del Carmen will die Tochter umgehend nach Hause holen, will deren Entlassung aus dem Heim. Doch sie wird vertröstet. Dafür brauche es Anhörungen, und danach müsse das Jugendamt entscheiden. Und das werde dauern. Das Drängen verpufft. Termine werden anberaumt und wieder verschoben. Dann kommt der 8. März 2017.
Tatenlos
Während des Prozesses gegen das Anstaltspersonal hört Maria del Carmen im Gerichtssaal, wie die Anwältin Estela Funes, eine der Nebenklägerinnen, von denen die betroffenen Familien vertreten werden, die Aussagen von Zeugen und Zeuginnen aus dem Heim vorträgt. Aufgerufen werden Mädchen und Jungen, die das Inferno miterlebt haben. Gehört werden die Untergebenen der Schlüssel tragenden Aufseherin Lucinda Eva Marina Marroquín. Sie sahen, wie diese Frau tatenlos dastand, zusah und nichts unternahm, um das mörderische Eingesperrtsein der Mädchen zu beenden. Eine Zeugin gibt zu Protokoll: „In dem Moment, als wir den Rauch aus dem Raum aufsteigen sahen, sind wir zu ihr hin und sagten: ‚Chefin, die Mädels werden verbrennen. Sehen sie nur den Rauch.‘ Sie stand dem Raum gegenüber und antwortete uns: ‚Lasst sie doch verbrennen. Ich will sehen, ob sie schlau genug sind, um aus diesem Raum zu entkommen, so wie sie ja auch gestern schlau genug fürs Abhauen waren. Ich will sehen, wie sie da herauskommen. Wären die gestern nicht getürmt, müssten wir jetzt nicht hier stehen‘.“ Eine andere Zeugin erinnert sich vor Gericht, dass die Aufseherin gesagt habe: „Sollen sie doch verbrennen, diese Hurentöchter!“
Bei Verhandlungsbeginn im Sommer 2017 gegen Eva Marina Marroquín und fünf weitere Angeklagte wurden diese Aussagen bereits von der Staatsanwältin vorgetragen, die danach ausführte: „Sie hätten die Tragödie bereits in ihren Anfängen verhindern können. Ihre Kolleginnen riefen ihnen zu: ‚Da ist Feuer!‘ Aber Sie haben das nicht zur Kenntnis genommen.“
Maria del Carmen folgt der Gerichtsverhandlung, auch wenn sie jedes Detail noch so sehr belastet. Sie will stark bleiben. Will nicht den Schmerz und die Wut aus sich heraus schreien. Auch nicht, als sie den Namen ihrer Tochter hört: Mayra Haydeé Chután Urías. Denn die Anwältin Funes nennt an diesem Tag alle Namen der Gestorbenen. Will damit jedes einzelne Mädchen würdigen, das in diesem verschlossenen Raum im „Hogar Seguro“ getötet wurde, weil die im Gericht sitzenden Angeklagten fahrlässig oder vorsätzlich die Hilfe verweigerten. Die Anwältin will jedes der Mädchen als Persönlichkeit darstellen und jede anonyme numerische Aufzählung der Opfer durchbrechen. Sie lässt sich viel Zeit, um zu schildern, was den 15 Überlebenden in den Monaten nach dem Brand passiert ist. Erzählt bei jeder einzelnen, was von ihrem Körper übrig blieb, nach Hauttransplantationen, nach Operationen, Amputationen und wochenlangem Krankenhausaufenthalt. Diese Mädchen seien für den Rest ihres Lebens gezeichnet. Sie blieben teilweise für immer auf Hilfe angewiesen. Man habe es mit zutiefst traumatisierten Seelen zu tun, mit den Opfern einer unzulänglichen Jugendpolitik des Staates, der es sich leicht mache, wenn er auf eine massenhafte Heimeinweisung setze. Das habe im Übrigen auch das UN-Kinderhilfswerk UNICEF in einer Studie mit dem Titel Die Krise der institutionalisierten Jugendarbeit und das System der Kinderschutzprogramme in Guatemala festgestellt.
Immer wenn sie kann, geht Maria del Carmen in Guatemala-Stadt zum Zentralplatz vor der Kathedrale im historischen Zentrum der Stadt. Mit einer Kerze in der Hand steht sie dann an der von den Angehörigen und einigen Hilfsorganisationen eingerichteten Gedenkstätte für die 56 toten oder schwer gezeichneten Mädchen aus dem „Sicheren Hort“. Sie ist dort, wo unübersehbar Gerechtigkeit gefordert wird. Zumeist trifft sie auf Mütter, die wie sie darauf hoffen, dass bald die Urteile gegen die Schuldigen gesprochen werden. Dass sich der Staat endlich mit der nötigen Verantwortung um Mädchen wie ihre Tochter kümmert.
Was ist Ihre Meinung?
Kommentare einblendenDiskutieren Sie mit.