Es ist einfacher“, soll der Literaturtheoretiker Fredric Jameson einmal bemerkt haben, „sich das Ende der Welt vorzustellen als das Ende des Kapitalismus“. Der Regisseur, Musiker und Drehbuchautor Dietrich Brüggemann, der zuletzt als Kritiker der Corona-Maßnahmen und als Mitinitiator der Protestaktion #allesdichtmachen in Erscheinung getreten war, hat aus diesem Satz ein literarisches Experiment gemacht. Sein Debütroman Materialermüdung erzählt den Untergang einer Welt, in der nach und nach alles kaputt geht. Das Prinzip der „geplanten Obsoleszenz“ – die Manipulation der Haltbarkeit eines Produkts mit dem Ziel, die Kunden zum erneuten Kauf zu bewegen – hat nicht nur von allen Dingen, sondern auch von der Natur und den Mensc
nd den Menschen Besitz ergriffen.Marode ist in der von Brüggemann entworfenen Welt aber auch und vor allem die Kommunikations- und Debattenkultur. Der Anspruch, öffentlich für moralische Werte einzutreten, kippt in Materialermüdung immer wieder ins Gegenteil, indem er unwillkürlich neue Formen der Ausgrenzung und Ungleichheit erzeugt. Auch wenn die Corona-Pandemie inhaltlich keine Rolle im Roman spielt, ließe sich die Erzählung über eine Gesellschaft, die in ihrem Willen zur Forschrittlichkeit und Produktivität die eigenen destruktiven Potenziale übersieht, auch als indirekter Kommentar zu der Diskussion um #allesdichtmachen lesen.Erzählt wird der Roman aus der Perspektive dreier Figuren, die kaum gegenwärtiger sein könnten: Maya ist Mitglied eines queeren Kollektivs, das im Zuge der Arbeit an einer Performance für das Deutsche Theater aber an inneren Machtkämpfen zerbricht. Freund Jacob komponiert Filmmusik und konkurriert zunehmend mit dem musikalischen Talent von Algorithmen. Moses stammt aus einer Familie, deren Kinder aus linkspolitischer Überzeugung alle von unterschiedlichen Männern gezeugt wurden. Bloß Moses’ verschollene Schwester Hannah soll vom Familienoberhaupt Günther stammen, der alle Kinder als seine eigenen großgezogen hat. Doch als Günther im Sterben liegt, treibt ihn die Frage nach seinem biologischen Erbe um. Er bittet Moses, Hannah aufzuspüren und seine Vaterschaft zu klären.Nackt vor die Tür gesetztDer Roman verleugnet an keiner Stelle seinen Konstruktionscharakter. Das beginnt schon mit der Anfangsszene: Nachdem Maya und Jacob beim Besuch im Landhaus von Jacobs Vater vom falschen Apfelbaum gegessen, Sex gehabt und sich über die verschwörungstheoretischen Schriften des Vaters lustig gemacht haben, werden sie, nackt, wie sie sind, vor die Tür gesetzt. In Brüggemanns aktualisierter Version der Vertreibung aus dem Paradies gibt es keinen harmonischen Ursprung, sondern lauter Herkunftsgeschichten, die bereits in sich gebrochen sind. Nicht nur Jacobs Vater, sondern nahezu alle Väter und Mütter der Geschichte sind jähzornig, eigennützig oder abwesend. Für ihre Kinder gibt es nur die Möglichkeit, sich in einer bereits defekten Welt zurechtzufinden.Die Generation von Maya, Moses und Jacob versucht das, indem sie eine hohe Achtsamkeit kultiviert, die allerdings selbst teilweise negative Folgen hat. Das zeigt sich nicht nur in dem Zerwürfnis von Mayas Performance-Kollektiv, sondern auch in den Erlebnissen der anderen Protagonisten, die ihrerseits Erfahrungen mit Anfeindungen im Netz und Twitter-Shitstorms machen. Brüggemanns Romanpersonal stammt aus einem Milieu, das im Wunsch, es besser machen zu wollen als die Eltern, zuweilen die blinden Flecken der eigenen politischen Überzeugungen übersieht.Der Versuch, etablierte Hierarchien zu zerstören und eine gerechtere Welt zu schaffen, führt nicht zur Aufhebung, sondern zur Verschiebung von Machtverhältnissen. Dennoch ist der Roman keine platte Satire über die Exzesse des moralischen Engagements im Zeitalter sozialer Medien. Das liegt vor allem daran, dass die drei Hauptcharaktere eine perspektivenreiche und selbstironische Sichtweise vermitteln. Selbst da, wo zeitgenössische Themen stark überspitzt aufgegriffen werden, vermeidet der Roman eindimensionale Deutungsfolien. Zudem wird die Geschichte von den glänzend geschriebenen Dialogen getragen. Brüggemann hat ein sehr gutes Gespür für Situationskomik.Gerade deshalb fällt das Ende des Romans stark ab. Die im Grunde zentralste Figur der Geschichte, Moses’ verschollene Schwester Hannah, hat ihren Auftritt erst auf den letzten Seiten. Sie ist leider zugleich die schwächste Figur. Als die Welt sich dem Untergang naht, der Strom ausfällt, Gebäude zusammenstürzen und Menschen unerklärliche Knochenbrüche erleiden, stellt sich heraus, dass Hannah als Wissenschaftlerin am Schweizer Kernforschungsinstitut CERN schon länger von der drohenden Apokalypse wusste.Doch an der Rettung der Welt hat sie kein Interesse – und zwar aus dem banalsten denkbaren Grund, der hier nicht verraten werden soll. Die Menschen jedenfalls erscheinen ihr zu egoistisch und zu schwach, um die Fortexistenz zu verdienen. Der Streit, der am Ende zwischen Maya und Hannah über die Frage entbrennt, ob sich das Prinzip der Destruktion oder die Macht der Liebe durchsetzt, ist nur schwer zu ertragen. Der kitschige Showdown und der nachfolgende Epilog, in dem ein Neuanfang unter veränderten Bedingungen angekündigt wird, bleiben – auch wenn sie Brüggemanns Faible für Groteskes entsprechen – hinter der Raffinesse des übrigen Textes zurück.Placeholder infobox-1