Öder als Goethe

Literatur Simon Strauß streift durch Rom, sondert Bildung ab und blickt dem Leben hilflos ins Auge
Ausgabe 26/2019
Obacht, Autoren! Epigone bloß zu sein, kann man durchaus auch als Chance begreifen
Obacht, Autoren! Epigone bloß zu sein, kann man durchaus auch als Chance begreifen

Montage: Der Freitag, Foto: Auroraphotos / Imagoimage

Simon Strauß’ Thema ist die Epigonalität. Bereits in seinem Debüt Sieben Nächte (2017) quält den Protagonisten die Angst, nichts Neues mehr schaffen zu können: „Immer, wenn ich an ein Früher denke, packt mich der Neid. Weil da so viel kaputt war, was neu aufgebaut werden konnte.“ In seiner eigenen Gegenwart scheint ihm ein solcher Gründungsgeist undenkbar. Um sich diesem Dilemma und den Zwängen eines scheinbar festgelegten Lebenslaufs – Studium, Arbeit, Heirat, Familiengründung, Tod – noch eine Zeit lang zu entziehen, sucht der Erzähler nach Extremerfahrungen. In sieben Nächten begeht er sieben Todsünden – oder zumindest zahme Luxusvarianten davon: Er überfrisst sich an Rindertatar und Entrecôte, wird auf einem Maskenball verführt und verwettet sein Geld bei einem Pferderennen.

Das Buch hatte, weil es für die Rückkehr zu Pathos und Emphase eintritt, eine mit abstrusen Argumenten geführte Debatte darüber ausgelöst, ob der Autor „Pamphlete für die neue Rechte“ schreibe. Doch Strauß’ Debüt krankte nicht an seinem vermeintlichen ideologischen Gehalt, sondern vor allem daran, dass darin letztlich wenig erzählt, dafür aber viel geklagt und sinniert wurde. Ein ähnliches Problem hat nun auch Römische Tage.

Wieder geht es um einen Ich-Erzähler, der unter seiner verspäteten Geburt leidet: „Wer zu spät auf die Welt gekommen ist, wird seine Zeit nicht finden, sagt man. Wonach also soll ich meine Uhr stellen?“ Diesem epigonalen Leiden begegnet der Protagonist durch eine epigonale Tat: Er verbringt einen Sommer in Rom und schreibt eine „Italienische Reise“. Er bewegt sich also auf den Spuren Goethes und der vielen Italienreisenden, die ihm gefolgt sind. Bereits die Ankündigung der Erzählung durch den Tropen-Verlag ließ einen Kritiker über das literarische „Klischee“ des reisenden Mannes und die dadurch manifestierte „männliche“ Sicht auf die Welt stöhnen. Doch dieser kritische Reflex verkennt das Potenzial epigonaler Literatur, die seit dem Ende der klassischen Ära stets daran arbeitete, den „Unsegen des Nachgeborenseins“ (Immermann) in einen Segen zu verwandeln. Wiederholung und Nachahmung müssen aus dieser Perspektive gerade keinen Makel darstellen, sondern können produktiv genutzt werden. Leider passiert genau das in Strauß’ Rom-Erzählung aber nicht. Stattdessen gewinnt man beim Lesen zunehmend den Eindruck, dass sich die Impotenz der Hauptfigur auf den Autor überträgt und ihn daran hindert, endlich mit dem Erzählen zu beginnen.

Lost in Klischees

Wie Goethe, der 1786 nach Italien aufbrach, um sich dem Druck der Weimarer Amtsgeschäfte zu entziehen, beschreibt auch der Protagonist aus Römische Tage seine Reise als Flucht. Rom soll ihm dabei helfen, „die Gegenwart abzuschütteln, das Schnipsen im Ohr loszuwerden“. Doch während Goethe in Rom um jeden Preis inkognito bleiben wollte, reist Strauß’ Erzähler in der beständigen Hoffnung dorthin, „dass jemand es merkt“. Solche selbstironischen Momente durchbrechen zuweilen das Pathos des Buchs. Es gibt sie aber zu selten.

Der Aufenthalt selbst besteht aus einer Aneinanderreihung unverbundener Episoden: Der Erzähler besucht die Geburtstagsfeier eines Messerwerfers, speist mit einem deutschen General im Ruhestand, verabredet sich mit dem Direktor der Biblioteca Hertziana und besichtigt prominente historische Schauplätze. Diese Ereignisse bilden weniger eine zusammenhängende Handlung als ein loses Gerüst, das in erster Linie dazu dient, Reflexionen des Erzählers in Gang zu setzen. Seine bildungsbeflissenen Beobachtungen von Land und Leuten werden häufig durch Fragen und Sentenzen im Ton einer Primanerphilosophie abgerundet: „Nichts scheint uns Modernen moderner als die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen. Aber in welche Zeiten gehöre ich? Welche Zeiten leben in mir?“

In einem Interview hat Strauß das Ziel seines neuen Buchs darin bestimmt, die „historische Schönheit“ Roms als Spiegelfläche gegenwärtiger europäischer Krisen einzusetzen. Dieser vielversprechende Ansatz übersetzt sich leider nicht überzeugend in die Erzählung. Dabei hätte man gerade über die Sichtweise der jungen Römerinnen und Römer, die Strauß bei der Recherche für das Buch offenbar ausführlich von ihren Zukunftsängsten, ihrem Alltag in der Stadt sowie ihrer Wahrnehmung der politischen Lage in Italien berichtet haben, gerne mehr erfahren. Stattdessen wirken die Szenen des Buchs belanglos. Das gilt bereits für kleinere Episoden – wenn etwa geschildert wird, wie sich ein Tischnachbar im Restaurant an einer Gräte verschluckt. Die existenzielle Tragweite, die Strauß solchen Ereignissen abgewinnt, ist schwer nachvollziehbar: „Eben noch sah er hilflos dem Tod ins Auge, jetzt nippt er schon wieder genüsslich am Chianti.“

Auch der einzige durchgehende Erzählstrang – die Faszination für eine junge Römerin – ermüdet letztlich durch Inhaltslosigkeit. Der Erzähler folgt ihr zunächst unbemerkt, lernt sie kennen und verabredet sich mehrmals mit ihr. Die wenigen Stellen, an der man etwas über die „Schöne vom Tiber“ erfährt, geraten zu leeren Phrasen: „Sie ist frei und doch verloren, schön und streng zugleich. Sie kommt mir vor wie eine, der die eigenen Worte Schmerzen bereiten, weil sie das Empfinden nicht spiegeln können“. Neben solchen sprachlichen Kitschelementen sind die amourösen Szenen auch durch ihre spröde Erotik, die an das Maskenballkapitel in Sieben Nächte erinnert, quälend. Die Tiberfrau „wartet und spielt“, aber küssen will sie nicht.

Man hätte sich von Strauß, der FAZ-Lesern als stilsicherer Feuilletonist bekannt ist, etwas mehr Mut zu großen Narrativen gewünscht. Dem für die europäische Idee engagierten Autor hätte man außerdem zugetraut, das Potenzial, das in der erzählerischen Verschränkung von römischer Vergangenheit und Gegenwart liegt, kreativer auszuschöpfen. Leider wird die Hoffnung, in Römische Tage mehr geboten zu bekommen als Glossen und Impressionen, immer wieder enttäuscht. Noch muss man als Leser darauf warten, dass Strauß endlich mit dem Erzählen beginnt.

Info

Römische Tage Simon Strauß Klett-Cotta 2019, 142 S., 18 €

Erika Thomalla arbeitet als Literaturwissenschaftlerin an der HU Berlin

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