„Sie mussten sich von einem ganzen Kontinent schlechter Literatur absetzen“
Interview Literaturszene Österreich: Klaus Kastberger über die Lage der österreichischen Literatur, die Werkstatt als Ort von Auflösung und die Frage, warum man seine kritische Haltung nicht an der Seminartür abgeben sollte
Für Klaus Kastberger ist das Archiv eine „lebendige Kraft“
Foto: picture alliance/brandstaetter images/Franz Hubmann; Clara Wildberger/Literaturhaus Graz (unten)
Mit einer Aufsatzsammlung schlägt der Literaturwissenschaftler Klaus Kastberger eine neue Lesart der modernen österreichischen Literatur vor. Er will sie aus dem Sumpf des Kitsches heben und zeichnet ihren Weg zur Moderne nach, der über Autor:innen wie Thomas Bernhard, Elfriede Gerstl oder Friederike Mayröcker führt. Dass es bei der Kanonbildung auch um die Entwicklung von Qualitätskriterien geht, ist ein Grund, warum er als Rezensent nicht zwischen Germanistik und Literaturkritik trennen mag. Es darf ruhig etwas unkonventioneller zugehen. Was dabei die Jury des Ingeborg-Bachmann-Preises, der er angehört, mit den Rolling Stones zu tun hat und was es in der österreichischen Literaturszene derzeit Neues zu entdecken gilt, erklärt er im Gesprä
28;ch mit dem Freitag.der Freitag: In Ihrem aktuellen Buch sprechen Sie vom Eigensinn und der Eigenart der österreichischen Literatur. Was macht diese Eigenart aus?Klaus Kastenberger: Die österreichische Germanistik hat sich seit den 1970er-Jahren bemüht, den Eigensinn der österreichischen Literatur vor allem in Abgrenzung zur bundesdeutschen Literatur zu fassen. Im Wesentlichen ging es dabei um eine Abweichung von dem glatten Realismus und von dem aufklärerischen Prinzip, das man damals in der bundesdeutschen Literatur verortet hat. Inzwischen ist die österreichische Literatur aber so erfolgreich, dass uns Österreichern ihre Besonderheiten von den Deutschen erklärt werden. Deshalb muss man die Eigenart inzwischen nicht mehr rechtfertigen, sondern kann da weitermachen, wo sie schon vorausgesetzt wird.Der erste Aufsatz Ihres Buches handelt von dem niederösterreichischen Autor Anton Wildgans (1881 – 1932), dem Sie bescheinigen, dass er „zu Recht vergessen“ sei. Das ist ein ziemlich hartes Urteil. Ging es Ihnen mit diesem Text darum, die österreichische Literatur von bestimmten klischeehaften Vorstellungen zu befreien?Mir ging es vor allem darum, zu zeigen, wovon sich die österreichische Literatur wegbewegt hat. Welchen Sumpf, welche Niederungen der Ästhetik, des Kitschs und der politischen Verantwortungslosigkeit wir verlassen haben, um zu einer Moderne zu kommen. Anton Wildgans ist in Österreich ohnehin so gut wie vergessen. Nur die Österreichische Industriellenvereinigung vergibt nach wie vor einen Preis in seinem Namen. Das finde ich unglaublich lustig, weil die Texte so schlecht sind. Das ist Kitsch as Kitsch can. Die österreichischen Autoren, die wir heute schätzen und mit denen ich mich in meinem Buch beschäftige – Oswald Wiener, Elfriede Gerstl, Elfriede Jelinek, Thomas Bernhard – mussten sich von einem ganzen Kontinent schlechter Literatur absetzen.Für wie überzeugend halten Sie denn Moritz Baßlers „Midcult“-These, nach der es in der Gegenwartsliteratur eine Tendenz zur Moralisierung, zum realistischen Schreiben und Erfassen von Literatur gibt?Er meint offenbar nicht die Literatur, die ich lese. Er nennt außer Clemens Setz keinen einzigen österreichischen Autor – hätte er das getan, dann hätte er festgestellt, dass es jenseits des allumfassenden Realismus eine Literatur gibt, die ganz anders funktioniert. Meine zehn Aufsätze sind so gesehen die Gegenthese zu seinem Buch, denn für die von mir behandelten Autoren ist das bloße Abmalen der Wirklichkeit kein Programm. Bei ihnen geht es um die Eigengesetzlichkeiten der Sprache, die Eigenlogik des Materials und die Gesetzmäßigkeiten des Archivs. Baßler meint, das Ganze zu sehen, und sieht bestenfalls die Hälfte.Das Archiv ist ein Leitthema Ihres Buches. Von welchem Konzept des Archivs gehen Sie aus?Ich fasse den Archivbegriff sehr weit: Die Werkstatt der Dichterin Friederike Mayröcker fällt genauso darunter wie das Medienarchiv, auf das Elfriede Jelinek zugreift. Bei Thomas Bernhard kommt das Archiv in Gestalt eines belastenden Erbes vor. Wichtig war mir vor allem, von der Fixierung auf das Einzelwerk wegzukommen. Bei Friederike Mayröcker kann man gar kein einzelnes Werk mehr im Archiv sehen, da bildet das Archiv das Gesamtmedium der Hervorbringung ihrer Kunst. Das Archiv interessiert mich als eine lebendige Kraft, die hinter der Verwirrung von Literatur steht – und auch als Ort, an dem es gespenstisch wird. Das Archiv ist kein Raum der sicheren Ablage und der stabilen Bedeutung, sondern ein Ort der Auflösung und der Abgründe.Sie schreiben nicht nur als Literaturwissenschaftler, sondern auch als Kritiker. Wie hängt beides für Sie zusammen?Literaturwissenschaft und -kritik sind für mich nicht zu unterscheiden. Ich habe lange unter dem vermeintlichen Gegensatz zwischen beidem gelitten und dachte, wenn ich Kritiker bin, wäre ich ein Anderer, als wenn ich einen wissenschaftlichen Text schreibe. Das Schlimmste, was an der Universität passieren kann, ist, seine subjektiven Erfahrungen am Eingang zum Seminarraum abzugeben.Wie sehen Sie derzeit die Lage der Literaturkritik? Angesichts der Popularität von Laienrezensionen und Buchbloggern ist die Rede von der Krise der Literaturkritik wieder sehr aktuell geworden.In der Literaturkritik gibt es augenblicklich eine unglaubliche Vielfalt: identitätspolitische Herangehensweisen, alte Haudegen, die glauben, die Zeit von Reich-Ranicki sei noch nicht vorbei, feministische Zugänge. Mir gefällt, dass das alles gleichzeitig stattfindet. Auch in der Jury des Bachmann-Preises treffen Leute zusammen, die, würde man sie nach den Kriterien ihres Urteilens fragen, gar nicht miteinander reden dürften. Aber es ist ein bisschen wie bei den Rolling Stones: Zusammen klingt es unglaublich gut, auch wenn jeder Einzelne vielleicht falsch liegt. Ich mag die Pluralität.Welchen Kriterien folgen Sie als Kritiker?Meine Kriterien der Urteilsbildung stammen aus den Werken selbst. Ich glaube, die Kritik sollte danach fragen, wie das Werk die Ansprüche, die es selbst stellt, einlöst. Diese Kriterien sind langfristig stabil und nicht sofort aufgebraucht.Was zeichnet die österreichische Gegenwartsliteratur 2023 aus?Die österreichische Literatur ist gerade so vielfältig wie nie zuvor. Der Gastland-Auftritt auf der Leipziger Buchmesse sollte ja eigentlich schon im Vorjahr stattfinden. Die Verlage haben deshalb großartige Bücher angespart, die jetzt im Frühjahr erscheinen. Einige folgen den alten Traditionen: Anti-Heimatliteratur im Stil Thomas Bernhards, Texte, die an die Wut von Elfriede Jelinek erinnern. Es gibt aber auch ganz anderes: Gerade habe ich die Literatur von Puneh Ansari entdeckt, eine Facebook-Autorin aus Wien mit iranischen Wurzeln, die kleine Mikrotexte veröffentlicht. Genau in solchen Zwischenformen – Kurztexte, avantgardistische Prosaformen – wird Literatur lebendig. Mich interessieren Autoren, die die klassischen Formen sprengen.Placeholder infobox-1