Stabilität wahren

Literatur Wie entsteht das Neue aus dem Wunsch nach Kontinuität? Heinrich Bosse erzählt die Aufklärung als konservatives Bestreben
Ausgabe 42/2021

Vorurteile, auch über das Jahrhundert der Aufklärung, halten sich hartnäckig. Eine der etablierten Erzählungen über das 18. Jahrhundert lautet, dass es mit dem Bürgertum ein historisches Subjekt gab, das sich allmählich aus den Zwängen der ständischen Gesellschaft emanzipiert habe. Die „Dialektik von Altem und Neuem“ wurde zum „Motor des Fortschritts“ erklärt. Der Freiburger Literaturwissenschaftler Heinrich Bosse, der in den vergangenen Jahrzehnten bahnbrechende Arbeiten zur Geschichte des Urheberrechts und zur Bildungsgeschichte des 18. Jahrhunderts vorgelegt hat, räumt in seiner neuen, umfassenden Monografie mit solchen Vorurteilen auf. Auch wenn es in den vergangenen Jahren einige Arbeiten gab, die sich gegen die These von der „Verbürgerlichung“ gewendet und etwa auf die Rolle der Höfe im Prozess der Aufklärung hingewiesen haben, besteht die besondere Leistung der Studie darin, vermeintliche Selbstverständlichkeiten auf den Prüfstand zu stellen und damit nicht zuletzt zentrale Erkenntnisse von Bosses eigener Forschung gebündelt zu präsentieren.

Die Aufklärung, so Bosses These, entsteht inmitten der ständischen Gesellschaft, die keineswegs durch binäre Gegensätze – Adel gegen Bürgertum, Hof gegen Stadt –, sondern durch zahlreiche, einander teilweise überlappende soziale Zugehörigkeiten und Öffentlichkeiten geprägt ist. Die großen Innovationsleistungen des Aufklärungszeitalters entstehen zunächst im Zusammenspiel und Wettstreit solcher Öffentlichkeiten. Sie resultieren vielfach aus dem Versuch, stabilisierende Anpassungsleistungen vorzunehmen. Als moderne Kampfansagen an die alte Gesellschaft konnten sie im Nachhinein verbucht werden, weil sie an einem bestimmten Punkt von ihrer eigenen Dynamik überrollt wurden. Das gilt gleichermaßen für die unter dem Label des „Patriotismus“ vorgetragene Aufforderung an die Bevölkerung, sich aktiv an der Beförderung des Gemeinwohls zu beteiligen, wie auch für staatlich geförderte Bildungsinitiativen: Fast immer, wenn es im 18. Jahrhundert darum geht, Selbstdenken oder Kritik zu fördern, geschieht das aus einem „sozialkonservativen Bestreben“ heraus und mit dem Ziel, keine sozialen Unruhen zu verursachen. Dieser zentrale „Selbstwiderspruch der Aufklärung“, das zeigt der Blickwinkel der Studie, prägt die Felder von Politik, Ökonomie und Gelehrsamkeit gleichermaßen.

Besonders lehrreich sind die Teile der Studie, in denen Bosse durch präzise Quellenarbeit die Bedeutung vertrauter Konzepte neu bestimmt. Das betrifft etwa die Ständegesellschaft. Der Stand ist, wie Bosse deutlich macht, weder bloß eine Sache der Geburt, noch ist man im Aufklärungszeitalter darauf festgelegt, lediglich einem Stand anzugehören. Es gibt vielmehr eine Fülle von Differenzierungskriterien wie Religion, Familienstatus, Beruf, Herkunft und so weiter. Die Gelehrten, deren Stand sich durch die lateinische Ausbildung, die Honorierung und den Rechtsstatus definiert, unterscheiden sich darin von den städtischen Bürgern, deren Stand durch körperliche Arbeit bestimmt ist. Erst am Ende des Jahrhunderts werden die Kriterien der Ausbildung und des Berufs abgeschafft: Im Versuch, die „Unzahl ständischer Unterscheidungen“ zu reduzieren, werden die Gelehrten dem Bürgerstand zugeordnet. Damit ist zugleich die alte, exklusive Form der gelehrten Öffentlichkeit – die Res publica literaria – durch eine neue, nationale Öffentlichkeit ersetzt worden. Auf dem Buchmarkt spiegelt sich das insofern wider, als Autoren jetzt nicht mehr für andere Autoren schreiben, sondern für ein Publikum, das zum Nachdenken und Interpretieren angeregt wird. Bosses Studie, an der man lediglich ein Literaturverzeichnis und ein Register vermisst, erzählt die Aufklärung als ein Bündel von Geschichten, an denen sich immer wieder zeigt, wie das Neue unvorhersehbar aus dem Wunsch nach Kontinuität entsteht.

Info

Medien, Institutionen und literarische Praktiken der Aufklärung Heinrich Bosse readbox unipress, 438 S., 30,90 €

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