Unsichtbares Fallbeil

Epidemie Heinrich Heine schrieb über die Cholera in Paris. Vieles kommt uns dabei ziemlich bekannt vor
Ausgabe 23/2020
Ein Opfer der Cholera. Darstellung aus dem Jahr 1832
Ein Opfer der Cholera. Darstellung aus dem Jahr 1832

Foto: Hulton Archive/Getty Images

Während die Politik die Corona-Pandemie als „beispiellose“ Ausnahmesituation bewertet und die Kanzlerin betont, dass „unsere Vorstellung von Normalität“ wie „nie zuvor“ auf die Probe gestellt werde, sprechen die internationalen Bestsellerlisten eine andere Sprache. Anfang März teilte Rowohlt mit, man drucke jetzt die 88. Auflage von Camus’ Pest. Eine ähnliche Renaissance feiern Boccaccios Decamerone, Defoes Die Pest zu London oder Thukydides’ Bericht über die „Attische Seuche“. „Erschreckend aktuell“, so kann man in den Feuilletons lesen, seien diese Texte heute. Offenbar wird der Literatur zugetraut, in Zeiten der Verunsicherung erbauliche Gedanken, Handlungsdirektiven oder auch „ein wenig Trost“ zu geben.

Über die Bescheinigung „frappierender“ Aktualität kann sich nun auch Heinrich Heine freuen, der im April 1832 als Auslandskorrespondent der Augsburger Allgemeinen Zeitung einen Bericht über den Ausbruch der Cholera in Paris verfasste. Der Text, den Heine später in die Feuilletonsammlung Französische Zustände aufgenommen hat, ist jetzt noch einmal als Separatdruck samt Faksimile erschienen.

Tatsächlich fällt es auch ohne das Vorwort von Herausgeber Tim Jung nicht schwer, Parallelen zwischen 1832 und 2020 zu bilden: Zu Beginn, so berichtet Heine, nahmen viele Pariser die Berichte über den Ausbruch der Seuche nicht ernst. Auf den Boulevards tummeln sich Personen, die „die Furcht vor der Cholera und die Krankheit selbst“ verspotten. Erst als kurz darauf Tausende von Leichen aus der Stadt gefahren werden, macht sich schlagartig die Angst breit. Bald folgen die ersten Verschwörungstheorien: „Die vielen Menschen, die so rasch zur Erde bestattet würden, stürben nicht durch eine Krankheit, sondern durch Gift.“ Vermeintliche Giftmischer werden von wütenden Passanten auf der Straße konfrontiert, es kommt sogar zu Lynchmorden. Als die Gefahr überwunden ist, erscheinen diese Ereignisse bloß noch wie ein böser Traum: Die „springend munteren Französchen“ gehen „lachend und schäkernd“ ihren Einkäufen nach. Die Schrecken der letzten Wochen scheinen aus dem kollektiven Gedächtnis verbannt.

Noch aufschlussreicher als die Reaktionsmuster der breiten Öffentlichkeit sind allerdings diejenigen des intellektuellen Beobachters: Nicht nur situiert sich bereits Heines Bericht, in dem Verweise auf Boccaccio und Thukydides nicht fehlen, in einer Tradition literarischer Seuchenberichte. Auch seine Deutung der Infektionskrankheit kommt nicht ohne historische Analogiebildungen aus, die mitunter an gegenwärtige Diagnosen erinnern. Für Heine ist die Cholera der Beginn einer zweiten Revolution, die zeigt, dass die erste französische Revolution rund 40 Jahre später noch nicht beendet ist.

Seuche als Chance

Obwohl die Seuche, die mit einer „unsichtbaren Guillotine“ durch Paris zieht, auf „Stand und Gesinnung“ keine Rücksicht nehme, werden zunächst die „ärmeren Klassen“ besonders hart von ihr getroffen. Während die armen Leute in der Stadt sterben, fliehen die Reichen auf ihre Landhäuser oder Schlösser außerhalb von Paris. Die Cholera macht soziale Ungleichheiten, die bereits überwunden schienen, erneut sichtbar. Sie soll daher den Anfang bilden für eine „umfassendere Universalrevolution“, bei der die „Umgestaltung der Institutionen“ mit den „Sitten und Bedürfnissen des Volks übereinstimmt“. Ärgerlich nur, dass der intellektuelle Revolutionär am Schreibtisch durch die Nebeneffekte ebenjener zweiten Revolution behindert wird: „Ich wurde in dieser Arbeit viel gestört, zumeist durch das grauenhafte Schreien meines Nachbars, welcher an der Cholera starb.“ Die Forderung des Intellektuellen nach sozialen Revolutionen, das kann man aus der Seuchenliteratur lernen, ist offenbar ebenso ein wiederkehrendes Phänomen wie der auf sein Landhaus flüchtende Reiche und der Verschwörungstheoretiker. Man kann nur hoffen, dass die Intellektuellen, wenn alles vorbei ist, nicht einfach bloß wieder lachend und schäkernd ihren Einkäufen nachgehen.

Info

Ich rede von der Cholera: Ein Bericht aus Paris von 1832 Heinrich Heine Tim Jung (Hrsg.) Hoffmann und Campe 2020, 64 S., 14 €

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