„Der falsche Gruß“ von Maxim Biller: Wer ist jetzt der Böse?

Identität Maxim Billers „Der falsche Gruß“ veredelt eigene Obsessionen zu brillanter Literatur
Ausgabe 33/2021
Die Ironie der Paranoia des Protagonisten liegt darin, dass jeder Verdacht, den er auf seinen Gegenspieler richtet, sich in ihm selbst spiegelt
Die Ironie der Paranoia des Protagonisten liegt darin, dass jeder Verdacht, den er auf seinen Gegenspieler richtet, sich in ihm selbst spiegelt

Foto: Andreea-Pop/Unsplash

Wer großen Erfolg haben will, braucht große Gegner. Kaum etwas verleiht so viel Ansporn wie der Glaube, einen übermächtigen Feind zu haben. In Maxim Billers neuem Roman ist dieser Feind der Autor Hans Ulrich Barsilay, „indirekter Nachfahre von König David, Spinoza oder Glückel von Hameln“ und eine mächtige Figur im Berliner Literaturbetrieb. Für den jungen Schriftsteller Erck Dessauer, der um 2000 von Leipzig nach Berlin zieht, wird Barsilay zum Symbol all dessen, was er erreichen will und was seinem Erfolg im Weg steht.

Die Geschichte setzt auf ihrem dramaturgischen Höhepunkt ein: Dessauer, der seinen ersten Verlagsvertrag unterzeichnet hat, ist überzeugt, dass Barsilay ihm nicht nur das Thema seines Buchs stehlen, sondern ihn zudem aus dem Verlag drängen möchte. Nachdem er in einer Bar eine Zeit lang misstrauisch beobachtet hat, wie Barsilay mit Freunden scheinbar über ihn spricht, beschimpft er ihn als „Arschloch“ und zeigt ihm „eine Mischung aus Hitlergruß und dem verrutschten Armwedeln eines Betrunkenen“.

Es gibt nur „die“ und „uns“

Die Vorgeschichte zu dieser Szene, die der Roman aus der Sicht Dessauers erzählt, ist der Bericht eines Paranoikers. Barsilay ist von Beginn an nicht nur ein Vorbild, das Dessauer um seinen Schreibstil, sein Aussehen und seine schöne Freundin beneidet, sondern auch und vor allem ein sadistischer „Manipulator“ und „Saboteur“ der eigenen Karriere. Dass bereits sein Vater einen von Barsilays Artikeln über Rostock-Lichtenhagen als Attacke eines Westdeutschen gegen die „Ossis“ gedeutet hatte, erweist sich für das Verhältnis zwischen Dessauer und Barsilay als wegweisend.

Obwohl er Jahre später bemerkt, dass sein Vater „die Hälfte“ des Textes – nämlich die kritische Beurteilung der Westdeutschen – nicht erwähnt hatte, gibt es auch für Erck nur „die und uns“. In den Biografien von Barsilay und Dessauer stehen sich allerdings nicht nur ein Novize und ein Etablierter, ein Ostdeutscher und ein Westdeutscher gegenüber, sondern auch der Enkel eines Nazi-Funktionärs im polnischen Generalgouvernement und der Enkel eines jüdischen Theaterkritikers, der zunächst untergetauchte Juden in Berlin denunziert hatte, um dann selbst ein „Ticket ohne Rückfahrt in den Osten“ ausgestellt zu bekommen.

Diese komplexe Gemengelage deutet bereits an, dass die Frage, wer eigentlich „die“ und wer „wir“ sind, wer die marginale und wer die überlegene Position einnimmt, nicht ganz einfach zu beantworten ist. Die Ironie von Dessauers Paranoia liegt jedenfalls darin, dass jeder Verdacht, den er auf seinen Gegenspieler richtet, sich in ihm selbst spiegelt. So wurde die Idee, sein erstes Buch über den sowjetischen Funktionär Naftani Frenkel zu schreiben, ursprünglich durch eine Novelle von Barsilay selbst angeregt.

Seine betrunkene „Nazigymnastik“ will Dessauer als Protest gegen die „totalitären Einschüchterungsversuche“ des „Großschriftstellers“ verstanden wissen. Und die Sorge, von Barsilay deshalb als Rechter denunziert zu werden, bringt ihn letztlich dazu, einen Enthüllungsessay über seinen Gegner zu schreiben. Am Ende des Romans ist Barsilay öffentlich bloßgestellt, Dessauer dagegen ein gefeierter Bestsellerautor. Bedroht fühlt er sich aber nach wie vor: „Etwas“ ihn ihm „spukt“ und hält die Sorge wach, von Barsilay als „der ewige böse Deutsche“ entlarvt zu werden.

Maxim Biller hat ein brillantes Buch darüber geschrieben, wie der Glaube an die eigene Marginalisierung und an die Verworfenheit des Gegners in Repression und moralische Selbstgefälligkeit umschlägt. Gerade im Willen, das Erbe der Vergangenheit zu überwinden, wird es von dem Protagonisten in unvorhergesehener Weise aktualisiert. Die hohe Kunst des Romans besteht aber darin, dass er an keiner Stelle in stereotype Darstellungen verfällt und keine einfache Moral entwirft. Das zeigt sich schon daran, dass beide Figuren gewisse Ähnlichkeiten mit dem Verfasser aufweisen. Doch diese Referenzen laufen ebenso wie das Misstrauen und der Verfolgungswahn, die den Ich-Erzähler antreiben, ins Leere. Barsilay ist überall.

Info

Der falsche Gruß Maxim Biller Kiepenheuer & Witsch 2021, 128 S., 20 €

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