Die schlechte, ungute Nachricht auf dem Weg zur Volksbühne: Benno Besson gestorben. Mit einmal wieder ganz lebendig seine dreimal überarbeitete Inszenierung der Brecht-Parabel Der gute Mensch von Sezuan, bleibendes Beispiel eines ebenso sinnlichen wie sinnigen Theaters. Hohe ästhetische Verfremdungen durch Masken und gestischen Ausdruck. Allein diese Inszenierung würde genügen, Benno Besson zu einem "Säulenheiligen" der Volksbühne zu machen.
Umso höher dadurch freilich auch die Erwartung auf die Neuinszenierung von Im Dickicht der Städte. Mit Ausnahme von Baal hat sich Brecht mit keinem Stück länger herumgequält als mit diesem. Es sollte, so Brecht im nachhinein, den "Einzug der Menschheit in die großen Städte", zum anderen den Sport als Massenereignis sinnlich ins Bewusstsein heben. Exemplifiziert wurde es am Zerfall einer ländlichen Familie, die es in ein fiktives Chicago des Jahres 1912 verschlagen hat, ausgelöst und ausgetragen am Kampf des Sohnes George Garga, eines armen Leihbibliothekars, mit einem undurchsichtigen Gegner, der sich als reicher malaysischer Holzhänder Shlink offenbart, der ihn hörig machen will, schließlich aber den Jüngeren als den Stärkeren siegen lässt. Der Zuschauer sollte dem Kampf unbeteiligt zusehen wie einem Boxkampf: Leidenschaftlich unbeteiligt. Ihre poetische Aufladung erfuhr die Fabel, wie Brecht später in seinem Vorwort zur Neuausgabe der frühen Stücke bei Suhrkamp im Jahr 1954 erklärte, durch "Wortmischungen (...) wie starke Getränke".
Wenn sich nun Castorf nach seinen Anverwandlungen von Romanen für die Bühne im Brecht-Jahr 2006 nach langer Zeit wieder einem Drama dieses Autors zuwendet und die Auswahl von Im Dickicht der Städte damit begründen lässt, dieses Drama stelle "das wichtigste Stück" dar, so lässt das aufhorchen. Aber siehe, das Stück soll gerade wegen der Nachteile, die Brecht an ihm später bemängelte, der Unschärfe seiner gesellschaftlichen Bezüge und seiner "unreflektierten Sprache" wichtig sein. Zum Tragen kommt die von Castorf auf einer Diskussion über heutige Aneignung von Klassik durch das Theater in Sao Paulo geäußerte Skepsis "gegenüber allem, was ich vorformuliert bekomme" ("Deshalb ist mir auch der junge, undidaktische Brecht so sympathisch"). Auch Brecht als Inzwischen-Klassiker gilt es nicht wegen aufklärerischen Potenzen neu anzugehen, sondern vor allem seine "anarchische Potenz neu zu beschwören". Auch bei ihm gelte es "die Intelligenz des Herzens ein(zu)bringen in die Analyse eines Stoffes." Theater habe ja subversiv zu wirken. Hauptzweck sei, zu schockieren durch Tabubrüche und Paradoxien.
In der jetzigen Inszenierung schlägt diese Auffassung voll durch. Figuren und Konflikte in Dickicht der Städte werden nicht dem von Brecht vorgegebenen fiktiven Chicago von 1912 zugeordnet, sondern dienen lediglich als Widerspiegelungsvehikel der aktuellen sozialen Malaise. Der dramatische Text bleibt daher über weite Strecken unverständlich und wird ersetzt durch Anspielungen auf heutige Missstände. So putzt George Garga, dargestellt durch Milan Peschel, die von ihm aufgegebene Familie als Hartz-IV-Schmarotzer herunter, die im Großgefühl, "nie mehr minderwertsch" sein zu wollen oder gar zu müssen, die Wende begrüßt haben. Und wenn Peschel den Brief schreibt, mit dem er seinen Gegner Shlink bei der Polizei denunziert, trägt er den Text in der Melodie des Solidaritätsliedes von Brecht/ Eisler vor, wozu er von Steve Binetti auf der E-Gitarre begleitet wird.
Der zentrale Konflikt zwischen dem reichen Holzhändler und dem armen Buchhandelsgehilfen, der seine Anstößigkeit im sinnlichen Begehren des "gelben" Malayen auf den jungen Weißen hat, wird nur schwach angedeutet. Werner Fritsch, der die Rolle des Shlink von Henry Hübchen übernahm, vermag weder aus dem verschlagenen Händler noch aus dem Kohlenträger, zu dem er sich (in der Maske Castorfs) für die Familie Garga erniedrigt, eine interessante Figur zu machen. Jeanette Spassova als Schwester Marie, Irina Kastrinides als Freundin Jane dürfen ihre Figuren wie gehabt verkreischend und verzerrend um jede Verständlichkeit bringen.
Wie ein Gespenst des alten Theaters geht Joachim Tomaschewski als Leihbibliotheksbesitzer durch dieses Vexierbild heutiger abgestiegener oder bedrohter Mittelschichtigkeit, zu dem Castorf auch dieses Brecht-Stück gemacht hat. Selbiges findet sich bereits in der Ausstattung der bis zu den Zuschauerreihen vorgezogenen Bühne durch Bert Neumann wieder: Ein Einheitsraum mit einem breiten Doppelbett und einigen Möbelstücken, die zu allen Szenen herhalten müssen. Der Eindruck des Verschwommenen, Diffusen wird gesteigert durch dämmriges Rotlicht. Die große Stadt wird gelegentlich durch eindringlichen Lärm assoziiert.
Es ist kennzeichnend, dass die viel zitierte Quintessenz des Stückes: "Es war die beste Zeit. Das Chaos ist aufgebracht" wie so nebenbei am Schluss aufgesagt wird. Castorf täte gut, die Maxime auf sich selbst zu beziehen. "Tabubrüche" und "Paradoxien" schockieren schon längst niemanden mehr, sondern machen nur noch gähnen. Man spürte es am Beifall.
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