Als ich Ende Mai zur fünfzigsten Vorstellung des Musicals Ludwig II. - Sehnsucht nach dem Paradies von München nach Füssen im Allgäu fuhr, kam mich eine Assoziation an. Sie lautete: »Das ist der Weg nach Füssen, / den alle gehen müssen.« Dieses gereimte Resumée zog der Dichter Johannes R. Becher in seinem Schauspiel in fünf Akten Der Weg nach Füssen, das er in seinem Exil in Moskau während der Nazizeit verfasste. Die Folgerung wird in dem genannten Stück, das ursprünglich den Titel Das Führerbild trug, von der Tochter eines deutschen Großindustriellen gezogen, der sich an die Nazis verkauft hat. Auf dem »Weg nach Füssen« begegnet sie einem »Unbekannten«, der ihr klar macht, dass es aus diesem Verhängnis nur einen Ausweg geben kann: aktiven Widerstand leisten.
Das Schauspiel kam erst im Juni 1956 im Maxim Gorki-Theater in Berlin zur Uraufführung. Es verschwand bald vom Spielplan, weil die in ihm ausgedrückte Hoffnung durch die geschichtliche Wirklichkeit nicht abgedeckt war.
Wer im Jahr 2000 sich auf den Weg nach Füssen machte, konnte ihn in voller Gewiss heit antreten, keinen politischen Erwartungen ausgesetzt zu sein, sondern sich mit dem Bayernkönig Ludwig II. aus dem vorletzten Jahrhundert der »Sehnsucht nach dem Paradies« hingeben zu können. Dieser »Märchenkönig« hat sich bekanntlich neben dem Stammschloss der Wittelsbacher in Schwangau bei Füssen seinen rückwärtsgewandten Traum von einer Einheit von Königtum und Kunst in der achitektonischen Gestalt einer mittelalterlichen Burg verwirklicht, der er den Namen Neuschwanstein gab. Das Geld für den Schlossbau wie zu den nachfolgenden Schlössern Linderhof im Ammertal (dem Schloss Trianon bei Versailles nachgebaut), und Herrenchiemsee (das das Schloss von Versailles imitiert), erhielt er aus dem »Reptilienfonds« des Erzpreußen Bismarck im Gegenzug für die Preisgabe der Souveränität Bayerns, die Opferung von 30.000 Bayern, die im preußisch-deutschen Krieg von 1870/71 auf den Schlachtfeldern von Wörth und Sedan fielen, und die Ausrufung des Preußenkönigs zum deutschen Kaiser auf Vorschlag des Bayernkönigs in Versailles. Der Schlösserwahn des Königs wurde von den bayerischen »Etatisten« schließlich benützt, um ihn 1886 wegen Unzurechnungsfähigkeit zu entmachten. Wie Ludwig schließlich am 13. Juni 1886 im Starnberger See ertrank (oder von seinem Leibarzt Dr. Gudden ertränkt wurde, der dabei freilich von dem bärenstarken König mit in den Tod gezogen wurde), bleibt eine mysteriöse Geschichte, über die vielleicht das Geheimarchiv der Wittelsbacher Aufschluss vermitteln könnte - aber das bleibt bis heute versiegelt.
Es sollte zur Aberwitzigkeit der Geschichte gehören, dass des Königs Wahn nach seinem Tode Sinn machte. Die von der Opposition als »Luftschlösser« miesgemachten Königsschlösser werden heute jährlich von rund zwölf Millionen Menschen aus aller Welt besucht, voran Neuschwanstein, dessen Poster fast jede Wohnung eines »gereisten« Japaners verschönt. Nichts scheint auf Dauer attraktiver zu sein als gehobener Kitsch, besonders wenn er als Ausdruck unerreichbarer Ideale erscheint. Was Ludwig mit dem Entwurf einer mittelalterlichen Burg, deren Festsaal eine Huldigung an den Minnesang darstellt, künstlerisch auratisierte, wurde im pompösen Kyffhäuserdenkmal des deutschen Kaisers als politische Utopie vergegenständlicht, die es zu verwirklichen galt: Die Wiederherstellung des deutschen Kaiserreichs.
In einer Zeit, in der nach dem Scheitern des Sozialismus eine nach vorwärts gerichtete gesellschaftliche Utopie, die sich nur kollektivistisch verwirklichen ließe, als obsolet gilt, bietet sich der »Märchenkönig« für den ausgerufenen schrankenlosen Individualismus geradezu als ideale Kompensationsfigur an: Wo jeder sein King, muss selbst auf einen Zaunkönig noch etwas vom Rad schlagenden Pfau abstrahlen, den der »Märchenkönig« im Maurischen Kiosk in Linderhof als Symbol seiner souveränen Würde in Gold und Perlen fassen ließ.
Kurz, nach der politischen Wende der neunziger Jahre erfassten die bayerisch-österreichischen Theatermacher Stephan Barbarino, Regisseur, Heinz Hauser, Bühnenbilder, und Franz Hummel, Komponist, den konservativen Mantel der Geschichte, um sich zu einem Ludwig II.-Musical inspirieren zu lassen. Sie gingen dabei »marktstrategisch« vor: Nicht kleckern - klotzen, als sie 1996 nicht nur die künstlerische Konzeption, sondern auch den Plan der Vermarktung des Musicals vorstellten: Errichtung eines eigenen Musicaltheaters im Forggensee bei Füssen, mit Ausblick auf den See auf die »echten« Schlösser Hohenschwangau und Neuschwanstein vor der unvergleichlichen Naturkulisse der bayerischen Alpen, dazu gastronomische Einrichtungen, Gartenanlagen, ein Park und Parkplätze. Als sie in einem Bürgerentscheid gegen Naturschützer und Geschichtsschützer gewonnen hatten, gingen sie energisch ans Werk. Für den künstlerischen Bereich wurde die Ludwig Musical AG Co. Betriebs-KG, für den Versorgungsbereich die Königswelten GmbH gegründet. Von einem Gründungskapital in Höhe von 88 Millionen DM wurden 47 Millionen in das Theatergebäude investiert. Dem Bauplan wurde der Entwurf des berühmten Architekten Gottfried Semper für ein für König Ludwig und Richard Wagner bestimmtes Festspielhaus in München zugrundegelegt. Eine 150 m breite Glasfassade eröffnet den Blick auf See und Königsschlösser. Der dreirangige Theatersaal umfasst 1.390 Plätze. Die Bühne, größte Musicalbühne in Deutschland, zweitgrößte deutsche Drehbühne, ist mit allen technischen Illusionseffekten ausgestattet. Organischer Bestandteil des Gebäudes sind auch die Ausstellungsräume für Souvenirs und die Restaurationsräume, in denen vornehmlich bayerische Gerichte serviert werden. Insgesamt sind 300 Personen beschäftigt, davon rund 50 Darsteller, 30 Tänzer, und 35 Mitglieder des Orchesters. Die Hauptrollen des Musicals sind alternierend besetzt; in Auditions werden Austauschkräfte ermittelt.
Man sieht, dass hier Profis am Werk waren und sind, die das Musical-Genre, seine künstlerischen Standards wie die Konditionen seiner Vermarktung kennen. Um das Musical rentabel zu machen, bedarf es einer Laufzeit von zwei bis drei Jahren. Mindestbedingung für die Rentabilität ist eine Platzauslastung von 65 Prozent. Zur 50. Vorstellung, die ich Ende Mai besuchte, betrug sie 82 Prozent; die schlechteste Auslastung lag in den Anfangsmonaten bei 68 Prozent. Für den entsprechenden Zulauf sorgt ein weltweites Netz von Reisebüros. In den Sommermonaten wird vor allem mit Besuchern aus dem Fernen Osten und aus den USA gerechnet. Es ist im Grunde die gleiche Klientel, auf die auch die Organisatoren der Passionsspiele im 100 km entfernten Oberammergau bauen.
Soweit, so gut. Wie aber steht es nun mit der künstlerischen Beschaffenheit des Ludwig II.-Musicals?
Was das Libretto betrifft, ist durchgängig das Prinzip gewahrt, Faction und Fiction sich durchdringen zu lassen. Konflikte der Hauptperson werden aus der realen Geschichte abgeleitet oder auf sie bezogen, wobei es dem Genre des Musicals natürlich durchaus ansteht, drei schwarze Nymphen als Fädenzieherinnen des Schicksals agieren zu lassen. Wenn dabei die historischen Gegenspieler des Königs, voran die Regierungsclique, als ziemliche Spießer, der König selbst mehr und mehr als genialer Schwärmer erscheinen, so fallen dabei auch amüsante Anzüglichkeiten auf die Gegenwart ab, so zum Beispiel wenn die Finanzierung der »Luftschlösser« in einem Immobilien-Song fraglich gemacht wird. Als ideale Menschen, die für einander bestimmt sind, aber sich auf Grund der Staatsraison nicht gehören dürfen, erscheinen Elisabeth von Österreich, Cousine des Königs, und Ludwig. Ihr Verhältnis wird im Lied Adler und Möwe besungen, das gleichsam zum Leitmotiv des Musicals wird. Spezifisches Musical-Kapital schlägt das Libretto naturgemäß aus den Beziehungen des Königs zu dem Trio Wagner, Hofkapellmeister Bülow und dessen Frau Cosima. Hier gibt es die witzigste Szene: Ludwig gibt sich in einer Separatvorstellung der Bewunderung von Siegfried, dem Drachentöter, hin, während »der Meister« es in den Kulissen mit Cosima treibt. Danach beginnt der Aufstieg des Königs in die Wahnwelten. Gezeigt wird seine Verwandlung in den »Märchenkönig« bei romantischen nächtlichen Schlittenfahrten, in der Berauschung mit Cannabis und im Genuss eines perversen Stepp-Plattlers (die einzige Anspielung auf die Homosexualität des Königs) im maurischen Kiosk und bei einer fiktiven Ballonfahrt um die Welt, die ihn natürlich wegen der zu erwartenden Japaner als Zuschauer auch in den Fernen Osten führt, wo er von Butterflys in Puccini-Tönen angehimmelt wird. In der Blauen Grotte hat er schließlich phantastisch wirre Begegnungen mit echten und falschen Freunden, während sich die Gegner unter der Anführung seines Leibarztes Dr. Gudden anschicken, ihn zu verhaften. Er verzichtet selbst auf die Macht und geht singend in den See: »In der Erinnerung erwacht mein Paradies und ruft nach mir.«
In der szenischen Verwirklichung lässt Bühnenbildner Heinz Hauser im Wechsel von romantischen Idyllen und üppigsten Phantasmagorien alle magischen Illusionseffekte der neuen Bühne ausspielen, konterkariert von realistisch wirkenden Gesellschaftsszenen. Das zielt aufs Gemüt, wenn der König im Paradeschlitten, von zwei Schimmeln gezogen, zu nächtlicher Stunde singt: »Irgendwo muß doch ein Mensch sein, / der mich so liebt, wie ich bin. / Irgendwo muß doch ein Ort sein, / an dem ich willkommen bin.«
Der Komponist Franz Hummel beherrscht alle generespezifischen Ausdrucksformen, vom Lied zum Song zur großen Arie, von Walzer und Polka zum zeitgenössischen Swing, vom gefühligen Geigenwimmern bis zu wuchtiger symphonisch strukturierter Hymnik. Aber je länger die Aufführung dauert, um so mehr vermisst man sich festsetzende »Ohrwürmer«, die für das Musical zum melodischen Zeichen würden.
Alles in allem zeigt sich, dass der romantische Bayernkönig aus dem vorvergangenen Jahrhundert doch nicht gerade als eine symbolisch zu nehmende Bezugs-, schon gar nicht aber als Identifikationsfigur für heutige Durchschnittsselbstverwirklicher herhaltbar ist. Die ihm zugeschriebene »Sehnsucht nach dem Paradies« ist doch zu rückwärtsgewandt und aristokratisch, als dass sie von demokratischen »Zaunkönigen« als eigene Sehnsucht nach- und mitempfunden werden könnte. Hierin wird wohl die eigentliche Klippe liegen, die Gestalter und Veranstalter des Musicals noch zu nehmen haben werden: einigen Hunderttausenden in aller Welt zu suggerieren, dass sie der »Märchenkönig« wirklich mindestens soviel angehen solle wie, sagen wir, der »Glöckner von Notre Dame«...
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