Clinton taumelt über die imaginäre Ziellinie

US-Primaries Die Superdelegierten haben noch nicht gewählt. Dennoch rufen Medien hier und in den USA Hillary Clinton als offizielle demokratische Präsidentschaftskandidatin aus

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Siegessicher: Hillary Clinton
Siegessicher: Hillary Clinton

Foto: Kevin Winter/AFP/Getty Images

Der Spiegel weiß es heute schon: "Sie hats [sic] geschafft: Clinton sichert sich historische Kandidatur". Ob Nelles, Medick oder hier Pitzke, die US-Korrespondenten des Spiegel sind genau vom Schlage Establishment-Presse, wie sie Bernie Sanders auf dem Kieker hat: Auf Hillary Clinton eingeschossene Status-Quo-Systemapologeten, die sich in der Washingtoner Elitenblase pudelwohl fühlen und so gar nicht verstehen können oder wollen was Bernie Sanders überhaupt will und warum er so viele Unterstützer und Wählerstimmen hat.

Aber ein solcher Absatz ist ja nur das typische Jammern eines realitätsfernen Sanders-Supporters, der die Tatsache nicht akzeptieren will, dass Hillary letzte Nacht mithilfe der über 540 Superdelegierten die angegeben haben bei der Parteiversammlung im Juli für sie zu stimmen, die magische Zahl erreicht hat, die sie benötigt um demokratische Präsidentschaftskandidatin zu werden. Dass Sanders überhaupt noch im Rennen ist, liegt an seinem egoistischen Drang, den Zerfall des demokratischen Lagers und damit den Sieg Donald Trumps in Kauf zu nehmen, nur um seine Karriere zu krönen. So liest man es diesseits und jenseits des Großen Teichs überall, mal mehr und mal weniger gehässig und herablassend.

Die Medien haben sich bei diesem Vorwahlkampf nicht mit Ruhm bekleckert. Nicht dass all die Journalisten des Presseestablishments regelmäßig in dunklen, zigarrenrauchgeschwängerten Kellerräumen zusammentrafen um ihre mediale Vernichtungskampagne gegen Bernie Sanders gemeinsam auszuhecken. Aber sie haben Donald Trump durch Dauerberichterstattung erst möglich gemacht und Bernie Sanders – die andere politische Sensation dieses Wahlzyklus, und wahrscheinlich die nachhaltig relevantere – erst lange unter den Tisch gekehrt und dann lächerlich gemacht, teilweise regelrecht bekämpft. Nicht dass sie nicht auch Clinton und Trump kritisch beleuchtet hätten, die Kritik an Sanders' Kampagne war jedoch meist vom Schlage "Sanders, nimm deinen Hut, du schadest nur Hillary, sonst kannst du nichts erreichen!"

Dass Hillary von der Verkündigung ihrer Kandidatur an als künftige Präsidentin gesetzt gesehen wurde, sah man nicht nur in den amerikanischen wie auch deutschen Medien, sondern auch in den ominösen Superdelegierten, von denen sich etwa 400 bereits Clinton versprachen, bevor überhaupt ein zweiter Kandidat im Rennen war. Die aktuelle Parteichefin der Demokraten, Debbie Wassermann-Schultz, war einst Hillary Clintons Wahlkampfmanagerin – ein Schelm wer ein abgekartetes Spiel vermutet. Diverse Entscheidungen bezüglich der Schließung von hunderten von Wahllokalen und der Streichung tausender Wahlberechtigter aus Sanders' Heimatbezirk Brooklyn in NYC und Finanztransaktionen aus generellen Parteispenden, die teils zu Hillarys SuperPac weitergeleitet wurden, sind nur Sahnehäubchen auf einer eindeutigen Festlegung der Parteispitze auf Hillary Clinton als demokratische Kandidatin.

Dass Hillary Clinton und Donald Trump die beiden unbeliebtesten Präsidentschaftsbewerber in der Geschichte der USA sind, spielt hier keine Rolle. Das Establishment kämpft um seine Vormachtstellung. Die GOP hat ihren Kampf schon verloren und muss sich kleinlaut hinter Trump stellen. Bernie Sanders konnte wohl gerade noch sehr knapp verhindert werden. Seine Politik und seine aufrichtige Unabhängigkeit haben jedoch so viele enthusiastische Befürworter gefunden, dass sich der DNC nicht zufrieden geben kann mit einem knappen Sieg Clintons in den Vorwahlen.

Hat sie denn gewonnen? Und wenn ja, wie gegeben ist ihr Triumph über Witzfigur/Despot Donald Trump? Schon seit Monaten gewinnt Sanders in beinahe allen Umfragen in fiktiven Kopf-an-Kopf-Szenarien stets klar gegen Trump mit zweistelligem Vorsprung. Clinton liegt bisweilen gleichauf mit Trump. Das Argument des Clinton-Teams, Hillary müsste demokratische Nominierte werden aufgrund ihrer besseren "electability", war statistisch eine reine Erfindung. Bernie Sanders ist der beliebtere Politiker (der einzige in dieser Vorwahl unter insgesamt 22 Bewerbern, der eine nettopositive Beliebtheitsbilanz vorweisen konnte), Clintons Glaubwürdigkeitswerte sind desaströs (teils unterhalb der von Trump), und wenn man das US-amerikanische Volk nach den einzelnen politischen Vorhaben des selbsternannten demoratischen Sozialisten fragt, ohne dabei zu erwähnen dass es sich um Sanders' Wahlprogramm handelt, erreicht man ca. 80% Zustimmung in der Bevölkerung, selbst unter Republikaner-Wählern.

Bernie Sanders ist auf dem Weg dahin, die tragische, vertane Chance der USA zu werden, auf demokratischen Wege das richtige zu tun und das korrupte System herauszufordern, ja zu bekämpfen. Noch kann beim Parteikonvent das passieren was 2008 mit Clintons Superdelegierten ebenso passierte: Sie könnten immernoch zu Clintons Rivalen wechseln. Sei es aufgrund der schlechten Werte die Hillary gegen Trump hat, sei es aufgrund einer offiziellen Anklage des FBI wegen ihrer Email-Affäre, sei es weil Bernie Sanders noch krachende Siege in Pennssylvania und Kalifornien einfahren kann und so knapp an Clintons Delegiertenzahl herangeschlichen ist, dass es eine Art politisches Patt beim Konvent gibt. Wahrscheinlich ist all dies nicht. Die Wahrscheinlichkeit, dass Clinton die Wahl gegen Trump nicht gewinnen wird, steigt jedoch stetig.

In einigen Landesumfragen zwischen Trump, Clinton und den Drittparteienkandidaten Gary Johnson (Libertarians) und Jill Stein (Grüne) erreichen die Vertreter der Kleinparteien derzeit Rekordwerte. In Michigan kommt Gary Johnson in der jüngsten Umfrage gar auf 12%. Von diesen 12% kennen vermutlich weniger als die Hälfte überhaupt den Namen Gary Johnson. Sie lesen "Trump?" und sie denken "Nein!" und sie lesen "Hillary?" und sie denken "Nein!" und sie lesen "Johnson?" und sie denken: "Kenn ich nicht. Aber besser als Trump oder Clinton wird er allemal sein."

Die Präsidentschaftswahl 2016 in den USA hatte die Chance, eine historische Wahl zu werden mit einem der besten Spitzenkandidaten, den die westliche Welt diesseits der Jahrtausendwende zu bieten hat. Stattdessen ist zu befürchten dass diese Wahl eine historische Katastrophe wird.

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Geschrieben von

Ernstchen

Wortbürger. Musikmann. Mitmensch.

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