Das Empörium schlägt zurück

Kulturen und Generationen Die derzeitigen öffentlichen Debatten sind von Gebrüll kaum noch zu unterscheiden. Ein letztes Aufbäumen festgefahrener Weltanschauungen?

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Vor einigen Wochen machte eine junge Frau namens Rachel Dolezal in den USA Schlagzeilen. Sie war Vorsitzende des örtlichen NAACP (National Association for the Advancement of Colored People) als sich herausstellte, dass sie gar keine Schwarze ist, sondern lediglich in die schwarze Kultur assimiliert sei, da sie sich seit ihrer Kindheit mit ihr identifiziere. Obwohl aus ihrem Lebenslauf und ihrem Engagement klar hervorgeht, dass sie sich ehrlich mit der schwarzen Community identifiziert und sich für ihre Rechte eingesetzt hat, musste Dolezal ihren Posten räumen, ein Shitstorm übergoss sich über sie und ein neues Wort schlich durch die Medien: Cultural Appropriation, in etwa: Kulturbeschlagnahmung.

Ein paar Wochen später veröffentlichte die jüngste Tochter des notorischen Reality-TV-Clans der Kardashians, Kylie, ein Foto auf Instagram, das sie mit einer Art Afro-Frisur zeigte. Die Empörungswellen schlugen wiederum hoch: Mit einer solchen Vereinnahmung schwarzer Kultur durch eine junge, weiße, privilegierte Frau verharmlose sie die Tatsache, dass schwarze Frauen sich immernoch dazu gedrängt fühlen oder tatsächlich gedrängt werden, sich die Haare glätten zu lassen, um in den USA bessere Chancen auf einen fairen Arbeitsplatz zu bekommen. So diskussionswürdig dieses Thema, wie viele andere, auch sein mag, der öffentliche Diskurs war ein Austausch von Empörungen auf den Polseiten der Diskussion. Was dazwischen lag und liegt, taucht kaum in den Medien auf und ist in den sozialen Netzwerken in all dem Lärm kaum herauszufiltern.

Dies scheint nun seit einiger Zeit der modus operandi des öffentlichen Diskurses geworden zu sein. Seien es die Reaktionen auf Rainer Brüderles Dirndl-Kommentar, Peer Steinbrücks Stinkefinger in der SZ, Putins Krim-Annexion oder unlängst die Aussicht auf einen schwarzen James Bond: Die lauten polaren Positionen setzen sich durch und finden ihren Weg in das kollektive Bewusstsein der Menschen. In einer Zeit in der eine unnachvollziehbar hohe Zahl Menschen süchtig nach einem Buch namens „50 Shades of Grey“ waren und sind, wird schwarz-weiß gemalt wie kaum zuvor in den letzten Jahrzehnten. Ein solcher Eindruck entsteht zumindest. Die durchaus auch weitverbreitete Besonnenheit geht unter in der Kakophonie der undifferenzierten Empörungen.

So werden zum Teil Gräben wieder gezogen die schon fast überwunden waren, so werden Antagonismen neu befeuert, so werden Feindbilder wiederhergestellt oder verstärkt. Man kann dies als eine natürliche Reaktion auf eine immer näher zusammenrückende Welt verstehen, einen Abwehrreflex im Angesicht bröckelnder Weltanschauungen, und vieles spricht dafür dass dem so ist und dies daher womöglich nur ein vorübergehendes Phänomen ist: Ein Aufbäumen einer verkalkten Sichtweise der Dinge, die sich nicht mehr an Neues gewöhnen kann oder will. Die scharfzüngige, bis ans Faschistoide heranreichende Rhetorik zur Einwanderungspolitik von republikanischen Präsidentschaftskandidaten in den USA wie Donald Trump, Ted Cruz oder Mike Huckabee ist ebenso ein Symptom dieser Entwicklung wie auch der aktuell hochkochende Hass gegen Flüchtlinge hier in Deutschland oder der Krieg im Nahen Osten zwischen Sunniten und Schiiten.

In den letzten 150 Jahren ist die Welt so nahe zusammengerückt bzw. -geprallt wie nie zuvor, durch Weltkriege, Technologie, die Luftfahrt etc. Mit dem Internet haben die letzten 20 Jahre diese Entwicklung noch einmal beschleunigt. Das Gefühl, mit ganz ganz vielen Menschen in einem Boot sitzen zu müssen, deren Weltanschauung oder Lebensweise man nicht teilt, konfrontiert die Menschen mit Alternativen zu ihrer eigenen Philosophie. Und anstatt anzuerkennen, dass man es auch anders machen kann, und für sich selbst zu entscheiden, seine eigene Weltanschauung infrage zu stellen oder eben nicht, wird daraus die Angst vor der feindlichen Übernahme ihrer Werte fabriziert.

Was mit dem Ende der Sklaverei und der darauffolgenden Segregation bzw. Apartheid begann, mit der Säkularisierung, mit dem Frauenwahlrecht und vielem mehr, setzt sich derzeit fort: Die Ehe zwischen gleichgeschlechtlichen Paaren, ein schwarzer James Bond, eine behutsamere Sprachregelung inbezug auf Minderheiten, eine kulturell diversere Gesellschaft, die Entwicklung weg von traditioneller Energiegewinnung, auch die Legalisierung von Marihuana, all das sind Veränderungen hin zu einer offeneren, nachhaltigeren, zukunftsgerichteteren Gesellschaft und dagegen wird von vielen Sturm gelaufen.

Doch es gibt Anzeichen dafür, dass dies eine Generationenproblematik ist und daher in ihrem momentan krassen Ausmaß womöglich zeitlich begrenzt: Vor einigen Wochen ergab eine britische Studie, die sich an der Kinsey-Skala orientiert, dass 49% der Befragten zwischen 18 und 24 Jahren sich nicht als „rein heterosexuell“ bezeichnen (darunter sind die 6% inbegriffen die sich als rein homosexuell beschreiben). 43% der jungen Menschen in Großbritannien sehen sich also in einer Grauzone. Die allermeisten neigen stark zum anderen Geschlecht, räumen aber durchaus zumindest geringfügige Zuneigung zum eigenen Geschlecht ein, oder die potentielle Möglichkeit dafür. Die junge Generation hat damit die ohnehin irreale Schwarz-Weiß-Schubladenordnung der sexuellen Orientierungen hinter sich gelassen und ist offener und realistischer und ehrlicher als die älteren Generationen. (Auf YouGov.co.uk zeigt ein Diagramm den Unterschied zwischen den Generationen sehr deutlich auf.)

Es wäre sehr aufmunternd, wenn diese Studie tatsächlich ein Hinweis darauf sein könnte, dass die nachfolgenden Generationen auch in anderen Angelegenheiten offener und freier und differenzierter in Denken und Handeln sein werden und diese zusammenstolpernde Welt doch nicht in Krieg, Hass und Feindschaft versinkt, sondern sich irgendwie halbwegs zusammenraufen kann. Ein frommer Wunsch, doch die Hoffnung stirbt ja doch zuletzt.

Dass während all diese Veränderungen passieren, der mörderische Kapitalismus - und damit eine Handvoll steinreicher Individuen - in seiner gnadenlosesten Form beinahe die ganze Welt regiert, ist ein heftiger Dämpfer für diese kleine Hoffnung. Doch auch dieses System ist derart heißgelaufen, dass es mehr denn je vom Kollaps bedroht ist. Sollte dieser kommen, könnte es natürlich sein dass die Menschen erst recht wieder aufeinander losgehen. Es bleibt eine noch kleinere Hoffnung, dass es so nicht kommen wird. Und die Verantwortung jedes einzelnen, dafür etwas zu tun.

Und was das aktuelle Epizentrum der Empörung betrifft: Wir haben auch die Verantwortung, in den öffentlichen Debatten nicht den feindseligen Habitus der versteinerten Menschen zu übernehmen: Man kann klar Stellung beziehen, ohne dabei selbst zum Arschloch zu werden. Es ist oft nicht einfach, aber es lohnt sich.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Ernstchen

Wortbürger. Musikmann. Mitmensch.

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