Das Zeitalter der Faker und Sammler

Daten & Manipulation Immer mehr Daten werden gesammelt und immer mehr dieser Daten werden manipuliert. Was für eine Zukunft blüht dem gläsernen Menschen?

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Seit den ersten Tagen der Fotografie gibt es Bildmanipulation. Seit den ersten Tagen des bewegten Bildes gibt es dort ebenso Bildmanipulation. Die Verzerrung oder Veränderung der abgebildeten Realität, nicht nur bereits durch die Auswahl des Ausschnittes den man abbildet, ist ein historischer Begleiter aller Entwicklungen in Fotografie, Film und Video. Retusche durch Photoshop oder After Effects, CGI und dergleichen sind nur die modernen Werkzeuge einer sich stetig fortentwickelnden Teilbranche der Bildmedien. Als im Jahr 1994 der Regisseur Robert Zemeckis in seinem preisgekrönten Hollywoodfilm „Forrest Gump“* die Titelfigur, gespielt von Tom Hanks, in historisches Filmmaterial hineinretuschieren ließ, so dass Tom Hanks glaubhaft John F. Kennedys Hand schüttelte, wurden viele Menschen, die sich sonst kaum mit solchen Dingen beschäftigen würden, erstmals aufmerksam auf diesen stetigen Begleiter und sein manipulatives Potential.

Der Coup von Jan Böhmermann um den Mittelfinger des griechischen Finanzministers Yanis Varoufakis ist nun ein weiteres Beispiel aus der Unterhaltungsindustrie, das uns etwas nahebringen kann: Dem Bild ist nicht zu trauen. Die drei Beispiele, die Böhmermanns Team in dem bereits zu einem Meilenstein der Fernsehgeschichte ausgerufenen Ausschnitt präsentiert – mit Mittelfinger, mit Zeigefinger und ohne Geste – sind alle absolut glaubwürdig präsentiert. Jede der drei Varianten könnte die Wahrheit sein. Und so sehr die Menschen herumrätselten was denn nun die „echte“ Version sei, worum es hier neben Böhmermanns sehr klugen Schlussstatement zum Missbrauch aus dem Zusammenhang gerissener Momentaufnahmen zur Diskreditierung eines Menschen unter anderem eigentlich geht ist eine Erkenntnis, die uns frösteln lässt: In der Bildmanipulation ist nunmehr alles möglich. Eine kleine Late-Night-Show kann es in gerade einmal zwei Tagen schaffen mithilfe eines Visual-Effekts-Teams alternative Realitäten zu erschaffen, die zu völlig unterschiedlichen Lesarten führen können.

Nun ist es nicht so, dass uns diese Praxis neu wäre. Und es ist auch nicht so dass diejenigen die es tun, denken würden wir werden es alle nicht merken. Als zuletzt eine ultra-orthodoxe israelische Zeitung die weiblichen Staatsoberhäupter aus einem Bild aus Paris nach dem Charlie-Hebdo-Anschlag herausretuschierte, muss ihnen klar gewesen sein dass das jemand merken muss. Sie haben es trotzdem getan, weil es ihrer Agenda zuträglich war, ihrer Weltanschauung. Und diejenigen, die sich in dieser Weltanschauungsblase bewegen, werden nicht hinterfragen, sondern sich bestätigt fühlen, in diesem Fall eben dass Frauen in Führungspositionen nichts verloren haben.

Was Böhmermanns unheimlich clevere Aktion unterstreicht ist: Jeder kann es tun. Buchstäblich jeder einzelne, der jemanden kennt der jemanden kennt, kann Bilder und Videos verändern (lassen). Jeder kann im Jahr 2015 Bilder und Videos ins Internet hochladen und dort kann sich durch Klickzahl das Fake gegen das Original durchsetzen. Will man dem ganzen etwas positives abgewinnen, könnte man sagen dass so zumindest die Macht über das manipulierte Bild nicht mehr allein in den Händen der Mächtigen, der Reichen, der Wirtschaft, der Kirchen, der Politik und der Medien liegt. Und ja, dieser Aspekt der Demokratisierung und Befreiung des „kleinen Mannes“ durch Internet und einige Technologie ist durchaus zu begrüßen. Doch eine Beweisführung durch Bildmaterial erlebt damit seine Götterdämmerung (ironischerweise genau als der Videobeweis beim Fußball eingeführt wird).

Da ist es doch fast schon amüsant, dass just zu diesem Zeitpunkt sich alles darauf hinentwickelt, dass alles und jeder permanent und überall gefilmt wird. Die noch in ästhetischen Kinderschuhen steckende Datenbrille Google Glass soll schon bald in Designermodelle integrierbar sein und die ersten Kontaktlinsen mit ähnlichen Funktionen sind in Entwicklung. Die Videoüberwachung öffentlicher Plätze ist allgegenwärtig und die Sorge der Menschen wächst dass die integrierten Kameras in Laptops, Tablets und Smartphones womöglich nicht nur aufnehmen wenn der Benutzer das bewusst tut. Diese Sorge wächst möglicherweise proportional zu eben genau dieser Praxis, das können wir aber bisher nur vermuten. Trotzdem ist es keine Übertreibung zu sagen, dass Orwells Big Brother längst Realität geworden ist. Das Problem der unfassbaren Datenmengen und der Dateninfrastruktur wird sich auch in den nächsten Jahren lösen lassen. Die NSA wird nicht aufhören alle Daten zu sammeln, sie wird ihre Datensucht ausweiten. Jeder Mensch, zumindest in den globalisierten Industrienationen, wird sein Tagebuch nicht mehr selbst schreiben müssen. Es wird irgendwo gespeichert sein, in Bild und Ton. Es ist eine exzessive und doch reduzierte Version eines Tagebuchs oder eines menschlichen Gedächtnisses: Es speichert nur die Worte und Taten, nicht jedoch die Gedanken. Die sind bis auf weiteres immernoch frei. Doch auch in diesem Bereich wird fleißig geforscht. Steuerung durch Gedanken steckt noch in der Laborphase, aber die Analyse von Verhalten mit Rückschlüssen auch auf unterdrückte Neigungen, beispielsweise durch die Analyse der Webhistory oder der Augenbewegungen beim Betrachten von Content im Internet oder sonstwo ist längst gängige Praxis. Kundenempfehlungen auf Amazon oder Facebook sind dabei nur die Spitze des Eisbergs.

Es ist schwer vorzustellen dass sich diese Entwicklung eindämmen lässt, sie ist bereits too big to fail. Und bei einigen Szenarien kann einem angst und bange werden. Gerade die Kombination aus totaler Datensammlung und Datenmanipulation kann dazu missbraucht werden, das gespeicherte Leben eines Menschen derart zu manipulieren, dass man unliebsame Unschuldige des Mordes überführen könnte. Das ist selbstverständlich bereits in der Vergangenheit passiert, doch nie waren die Möglichkeiten der Beweismanipulation so mannigfaltig wie heute. Es ist auch vorstellbar, dass durch die universelle Manipulationsmöglichkeit des Bildes in Zukunft die visuellen Medien sich radikal verändern oder untergehen werden. Alles was „live“ passiert, also nicht im gleichen Maße direkt manipuliert werden kann, wird einen viel höheren Stellenwert bekommen. Womöglich wird es sogar Hackerclubs geben, deren mediale Freizeitbeschäftigung es ist, sich in die Kameras eines anderen Individuums einzuloggen und deren tägliches Leben zu beobachten, aus der Perspektive derer Datenbrillen, derer mobilen Geräte, Überwachungskameras im öffentlichen wie privaten Raum (beispielsweise in deren Autos). Eine Mischung aus „Being John Malkovich“* und „Strange Days“* gewissermaßen. Das klingt natürlich irgendwie völlig aufregend, zumal wir an solche Konzepte durch Reality-Shows wie Big Brother, Dschungelcamp und Mars One bereits herangeführt werden. Der letzte Unterschied ist noch, dass diese Formate erstens zensiert werden und zweitens unter Zustimmung der Gefilmten stattfindet. Doch warum sollten wir nicht glauben, dass uns eine solche Zukunft ins Haus steht, wenn wir doch beobachten können dass sich alles in Riesenschritten genau daraufhin zubewegt?

Im Prinzip haben wir nur zwei Möglichkeiten: Entweder wir lösen uns von all der Technologie und ziehen in einen Teil der Welt, der von all der Überwachungstechnologie noch größtenteils verschont ist, oder wir stellen uns einer solchen Zukunft und lernen Wege und finden Werkzeuge um mit ihr umzugehen. Denn wenn, was Böhmermann uns in Ansätzen vorgeführt hat, wir im Prinzip alle die gleichen Werkzeuge in die Hand bekommen, können wir eventuell ein Machtgleichgewicht schaffen, eine Art Kalten Krieg zwischen uns und denen die uns mit all den Daten und Manipulationsmöglichkeiten schaden wollen könnten. Es klingt nicht nach einer rosigen Zukunft. Aber vielleicht nach einer nicht ausweglosen.

*
"Forrest Gump" (1994)
Directed by Robert Zemeckis
Written by Eric Roth
Starring Tom Hanks, Robin Wright & Gary Sinese

"Being John Malkovich" (1999)
Directed by Spike Jonze
Written by Charlie Kaufman
Starring John Cusack, Cameron Diaz & John Malkovich

"Strange Days" (1995)
Directed by Kathryn Bigelow
Written by James Cameron & Jay Cocks
Starring Ralph Fiennes, Angela Basset & Juliette Lewis

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Geschrieben von

Ernstchen

Wortbürger. Musikmann. Mitmensch.

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