Der Gott des Gemetzels

Terror, Hooligans, etc. Terror in Orlando, Ausschreitungen bei der EM, Morddrohungen an türkischstämmige Bundestagsabgeordnete. Ein Testament der Ratlosigkeit

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Am Wochenende kam es in Marseille vor dem EM-Spiel England gegen Russland zu Ausschreitungen
Am Wochenende kam es in Marseille vor dem EM-Spiel England gegen Russland zu Ausschreitungen

Foto: Carl Court/AFP/Getty Images

Ein einzelner Mann, geboren in den USA, Sohn afghanischer Einwanderer, hat in einem LGBT-Szeneclub in Orlando (FL) 50 Menschen getötet und 53 weitere verletzt. Er besaß eine Pistole und ein Sturmgewehr, legal erworben trotz mehrmaliger FBI-Untersuchungen. Er rief die Polizei an und proklamierte seine Treue zum IS. Donald Trump forderte daraufhin Präsident Obama zum Rücktritt auf.

Zu Beginn der Europameisterschaft 2016 in Frankreich ist es zu wüsten Ausschreitungen von Fans gekommen. Beteiligt waren größtenteils englische, russische und deutsche Hooligans. Eine Gruppe deutscher „Fans“ posierte für ein Foto vor einer Wehrmachtsflagge. Englische Fans skandierten Berichten zufolge „ISIS, where are you?“.

Der türkische Präsident Erdogan hat die Trauerfeier für Muhammad Ali vergangene Woche wutentbrannt verlassen, weil ihm angeblich verboten wurde, aus dem Koran vorzulesen. Deutsche Abgeordnete türkischer Abstammung stehen derzeit unter verstärktem Polizeischutz, weil sie seit der Armenien-Resolution Ziel von zahllosen Morddrohungen geworden sind. Die Türkei selbst wird immer wieder von Selbstmordanschlägen erschüttert.

[Während all dies geschah, fand (ausgerechnet) in Dresden die diesjährige Bilderberger-Konferenz statt, vom 9. bis 12. Juni.]

Deutschland hat die AfD, Amerika hat Donald Trump, Frankreich hat den Front National, Österreich die FPÖ, Ungarn hat Orban und schlimmeres, die Briten erwägen den Brexit, Russland feiert die Annexion der Krim, Nordkoreas Kim Jong Un äußert sich wohlwollend über Donald Trump.

Und während die Fanatiker diesseits und jenseits des Goldenen Vorhangs der Ersten Welt immer gewaltbereiter werden, freuen wir uns auf das fahrerlose Auto, die erste bemannte Reise zum Mars, das erste Holodeck. Wir feiern die Industrie 4.0, die Komplettvernetzung und Digitalisierung aller Gebrauchsgegenstände, die aufkeimenden Künstlichen Intelligenzen und die neue Torlinientechnik bei der EM. Dass all diese Wohlstandserrungenschaften nur mithilfe der Unterdrückung und Ausbeutung der ärmsten Menschen und Gegenden der Welt möglich waren und sind, wissen wir irgendwie, verdrängen wir aber um uns nicht permanent schlecht zu fühlen.

86 Superreiche besitzen so viel wie die ärmsten 3,5 Milliarden, die Hälfte der Menschheit. Wir wissen das. Glauben wir ernsthaft, dass das so weitergehen kann ohne den großen Knall? Die Stimmung hier und anderswo erhitzt sich immer mehr, Lösungen werden nicht diskutiert. Mit Bernie Sanders in den USA wäre es beinahe gelungen, jemanden ins Rennen um das Präsidentenamt zu bringen, der zumindest die allermeisten Missstände korrekt benennt und seit 40 Jahren konsequent dafür gegen alle Mühlen des Status Quo, mit leider entsprechend verschwindend geringem Erfolg, kämpft. Doch just als Hillary Clinton halbwegs die Kandidatur in der Tasche hat, passiert die Massenschießerei in Orlando und die EM in Frankreich, zwei Ereignisse, die die öffentliche Debatte, zumindest medial über Wochen dominieren werden. Sanders'ungefährem Pendant in Deutschland, der Partei DIE LINKE, gelingt es im Vergleich abgrundtief schlecht, die Tatsachen und Missstände der Welt in eine politische Bewegung zu verwandeln. Lieber bewirft man sich gegenseitig mit Torten und Beleidigungen.

So wird das nichts. Der fundamentalislamistische Terror, indirekt von der menschenverachtenden invasiven Gegenwart und Vergangenheit westlicher Überheblichkeit und Raffgier erschaffen, lacht sich derweil ins Fäustchen und hat erreicht was er erreichen wollte: Angst und Schrecken zu verbreiten und Hass zu säen. An Stammtischen, auf der Straße vor Flüchtlingsheimen und in politischen Brandreden wird wieder davon geredet, „sie alle auszulöschen“. Wo soll das noch hinführen? Es scheint, eine Art dritter Weltkrieg oder landesübergreifende Bürgerkriege stehen uns bevor (Selbst im US-Kino der Superhelden sind dieses Jahr gleich drei Filme ins Rennen gegangen, wo die "Helden" aufeinander losgehen: "Batman v Superman", "Captain America: Civil War" und "X-Men: Apocalypse"), denn die Stimmen der Vernunft werden immer mehr übertönt durch das Geschrei der Ängstlichen und Hasserfüllten.

Die Frage ist nun: Was kann die/der einzelne dagegen tun?

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Geschrieben von

Ernstchen

Wortbürger. Musikmann. Mitmensch.

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