Die Last der Masse

Pont des Arts Unter der Last tausender Vorhängeschlösser ist in Paris ein Brückengeländer eingestürzt. Und das Gedankenkarussell dreht sich ... was erzählt uns diese Geschichte?

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Es ist eine Meldung die man für einen Aprilscherz halten will. Doch sie ist wahr. Auf der Pariser Fußgängerbrücke Pont des Arts, dem Ort an dem tausende Pärchen von überall auf der Welt kleine Vorhängeschlösser anbringen und anschließend den Schlüssel in die Seine werfen, als eine Art rituellen Liebesschwurs, ist aufgrund des Gewichts der unzähligen Schlösser am Sonntag ein Teil des Brückengeländers unter der geballten Liebeslast zusammengebrochen. Die Brücke musste „evakuiert“ werden.

http://cdn4.spiegel.de/images/image-706243-galleryV9-vtiy.jpgMan kann nicht umhin, zu schmunzeln. Eine ursprünglich romantische Idee einzelner führte zur totalen Massenromantik, lebensgefährlich, strukturschädigend, unberechenbar. Es ist ein schönes, beinahe groteskes Beispiel, um den Menschen vorzuführen was passiert wenn aus einigen wenigen Überzeugungstätern (auch mithilfe von einigen geschäftstüchtigen Manipulatoren, in diesem Fall an sich harmlosen Verkäufern von Vorhängeschlössern und Touristenführern) eine Masse von Mitläufern wird, die nur weil andere etwas tun, dies auch tun. Der freie Wille, so er denn existiert, wird ausgeschaltet und die Schwarmdummheit setzt ein. Maßlosigkeit und Ignoranz möglicher Folgeschäden sind Kernkompetenzen der Menschheit als Masse. Während der einzelne Mensch das Potenzial zum Guten hat, zur nachhaltig „richtigen“ Entscheidung, die nur geringe Auswirkungen auf das direkte Umfeld hat, potenziert sich bei der Menschenmasse das Schlechte, die „falsche“ Entscheidung, die globale Auswirkungen hat auf den ganzen Planeten.

Dass das den Ausgangspunkt voraussetzt, bipolare Konzepte wie gut/schlecht oder richtig/falsch seien real und nicht nur Behelfskonstrukte, ist natürlich auch wahr. Doch einigen wir uns auf konstruktiv/destruktiv als Pole hier. Sie schließen sich nicht gegenseitig aus, manchmal bedingt das eine das andere, dennoch erscheint es mir dass „die Masse“ (eine noch näher zu definierende Größe) bei zu viel „Bewegung“ beinahe automatisch ins Destruktive verfällt und in der Regel Schaden anrichtet. Bürgerrechtsbewegungen, Sklavenaufstände und Friedensdemos (nicht die von 2014) scheinen Ausnahmen von der Regel zu sein.

Dieser Gedanke, dass die Bewegung der Masse den Schaden bringt, klingt fürchterlich konservativ. Nimmt man den Wortsinn zur Hand, also „bewahrend“, dann ist da was dran. Und dann sind die Grünen auch wahrscheinlich die konservativste Partei, auf das Große Ganze bezogen. Sozialpolitisch nicht und Schwenks weg vom Pazifismus widersprechen ihrem Grundanliegen fundamental, aber was die Grünen an sich wollen ist die beste Form von Konservativismus: Die Bewahrung. Wenn sie noch für sich entdecken würden, dass für die Bewahrung der Schöpfung auch ein Verhindern von Masse, von Zentralismus, ja von weiterer Globalisierung nötig wäre, wären sie vielleicht wieder eine glaubwürdigere Partei.

Und doch zeigt das Beispiel vom Pont des Arts, dass die Menschheit nicht lernt bevor der Schaden eintritt, sondern immer erst danach, wenn überhaupt. Und dann auch nur für kurze Zeit. Erkenntnisse über Ursachen und Wirkungen speichert die Menschheit nur im Kurzzeitgedächtnis ab. Und Vorabwarnungen machen nur umso neugieriger. Die Warner aus der Wissenschaft stehen in ihrer Zunft leider auch direkt neben denjenigen die ohne Angst vor den Folgen, ja manchmal indifferent zu den Folgen, klonen, Atombomben erfinden und Getreide monsantokonform züchten. Und die Warner aus den Weltreligionen erleben ihre letzten Tage des Einflusses. Und die Warner aus der Politik sind lobbyabhängige Opportunisten, denen man keine Aufrichtigkeit mehr abnimmt. So bleibt der Menschheit nur die Reaktion auf den Schaden. Und meistens, wenn die Erde verbrannt ist, zieht man weiter und verbrennt woanders die Erde.

In Nürnberg, beim Multiplexkino Cinecittà, führt eine Fußgängerbrücke über die Pegnitz zur Insel Schütt. Dort hat es bereits begonnen, einige hundert Vorhängeschlösser hängen dort schon. Und auch hier gäbe es etwas zu lernen für die Menschheit: Würde man nicht alle Schlösser an die eine Brücke hängen, sondern überall auf der Welt an Brücken, an Brücken die dem Paar vielleicht persönlich etwas bedeuten, vielleicht weil sie sich da das erste Mal geküsst haben oder fürchterlich nass geworden sind weil ihnen der Regenschirm weggeflogen ist, oder weil sie da zusammen einen Joint geraucht und danach den Mond angeheult haben, dann hat die Geste wieder eine Bedeutung, dann kann es eine Tradition werden wie der Heiratsantrag oder der Blumenstrauß. Und es würde kein Brückengeländer mehr einstürzen.

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Geschrieben von

Ernstchen

Wortbürger. Musikmann. Mitmensch.

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