Ein Silberstreif am Horizont

Alexandria Ocasio-Cortez Der mächtige Demokrat Joe Crowley wird von einer jungen puerto-ricanischen Linken in der Kongressvorwahl besiegt. Die "Democratic Socialists" sind im Aufwind

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Sie will kein Stück vom Kuchen, sie will die ganze Bäckerei
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Foto: Scott Heins/Getty Images

Wir befinden uns im Jahr 2018 n.Chr. Ganz Amerika ist von korrupten Politikern besetzt ... Ganz Amerika? Nein! Eine von unbeugsamen „Democratic Socialists“ bevölkerte Gruppe hört nicht auf, dem Establishment Widerstand zu leisten. Und gestern Abend gelang der Gruppe ein entscheidender Sieg. Die puerto-ricanische New Yorkerin Alexandria Ocasio-Cortez gewann die Repräsentantenhaus-Vorwahlen im Wahlbezirk Queens/Bronx gegen die aktuelle Nummer vier der Demokraten im Kongress, Joseph Crowley, der bis dato als einzig logischer Nachfolger von Sprecherin Nancy Pelosi gehandelt worden war. Crowley gilt als Inbegriff des Establishment-Demokraten, auf einer Linie mit Pelosi, Chuck Schumer und Dianne Feinstein, der es vor ein paar Wochen noch gelang, ihre progressive Herausforderin Alison Hartson in Kalifornien zu schlagen.

Ocasio-Cortez, die 2016 freiwillige Helferin in Bernie Sanders' Präsidentschaftskampagne war und zuvor für das Büro des liberalen Senators Ted Kennedy und später als Community Organizer gearbeitet hatte, bis sie in der Bankenkrise dann als Kellnerin Überstunden machte, um ihrer Familie unter die Arme zu greifen, wird von einer ganzen Reihe progressiver Gruppen unterstützt: Justice Democrats, Brand New Congress, Our Revolution, Democratic Socialists for America, und außerdem von der New Yorker Gouverneurskandidatin Cynthia Nixon.

Vieles an diesem Wahlsieg ist bemerkenswert. Auch wenn sich bereits zuvor mehrere progressive Kandidaten mit dem Politikstil und den Überzeugungen eines Bernie Sanders im Laufe dieses Jahres in regionalen und landesweiten Vorwahlen durchsetzen konnten, ist Ocasio-Cortez die erste Kandidatin, der ein Einzug in den Kongress nun quasi nicht mehr genommen werden kann. Gleichzeitig hat sie, eine bislang völlig Unbekannte im Politikzirkus Washingtons, einen der mächtigsten Demokraten im Land entthront, der seit 14 Jahren nicht mehr herausgefordert wurde. Die Zahlen sprechen hierbei Bände: Joe Crowley sammelte über 3 Millionen Dollar Wahlkampfspenden, das zehnfache (!) dessen, was Ocasio-Cortez in ihrer Graswurzelkampagne rein von Kleinspenden zusammenbrachte. Wie alle anderen „Democratic Socialists“ oder „Justice Democrats“ akzeptiert sie keine Großspenden aus der Industrie oder von reichen Einzelspendern – und setzt sich ebenso dafür ein, diese Praxis in den USA abzuschaffen. „Get money out of politics“ ist die wichtigste Forderung der von Bernie Sanders inspirierten progressiven Bündnisse, die sich derzeit anschicken, die Demokratische Partei zu entern und umzukrempeln. Die durchschnittliche Einzelspende für Alexandria Ocasio-Cortez lag bei etwa 18 Dollar. 70% ihrer Wahlspenden waren Kleinspenden unter 200 Dollar – bei Crowley lag dieser Wert bei lediglich 0,79% (!).

Seit der Supreme-Court-Entscheidung im Jahr 2010, die weitläufig unter dem Namen „Citizens United“ bekannt ist, Großspenden von Konzernen bei Wahlkämpfen zuzulassen, haben in allen Kongresswahlen zu über 90% immer die Kandidaten mit der großeren Wahlkampfkasse gewonnen. Diesmal hat der Kandidat mit dem zehnfachen Budget und dem beinahe unendlich größeren Bekanntheitsgrad verloren. Und zwar deutlich. Laut aktuellem Stand (98% der Stimmen sind ausgezählt) liegt Ocasio-Cortez bei 57,5% und Crowley bei 42,5%.

Medial wurde die Herausforderin erwartungsgemäß größtenteils ignoriert, wenn man nicht totgeschwiegen sagen will. Lediglich das Online-Newsnetzwerk „The Young Turks“ und deren Partner wie Kyle Kulinski u.a. berichteten regelmäßig über Ocasio-Cortez, wie auch über Alison Hartson und Ben Jealous, der gestern die Gouverneurs-Vorwahl in Maryland für sich entscheiden konnte. Nach dem gestrigen Wahlsieg in New Yorks 14. Bezirk titelten die allermeisten Blätter und Websites die Sensationsmeldung in diversen Varianten von „Crowley wird von junger Herausforderin gestürzt“, ihr Name selbst tauchte in den Schlagzeilen nicht auf. CNN kommentierte und korrigierte heute morgen diese Unterschlagung und titelte: „Who is Alexandria Ocasio-Cortez?“ Donald Trump kommentierte ihren Sieg , – auf seine unnachahmliche Weise –, indem er über Joe Crowley herzog und am Ende zu Protokoll gab: „Perhaps he should have been nicer, and more respectful, to his President“. (Wer immernoch meint Trump wäre kein Autokrat – und Dummkopf – hat eindeutig nicht richtig aufgepasst.)

Insider der Demokratischen Führungsriege sind nun offenbar konsterniert. Sie hatten nicht damit gerechnet, dass die linke Graswurzelbewegung in den USA mehr als nur eine winzige Randgruppe ist – trotz Bernie Sanders' 46% in der Vorwahl gegen Hillary Clinton. Ben Jealous wird mit allergrößter Wahrscheinlichkeit der erste Gouverneur in den USA, der sich zum Manifest der „Democratic Socialists“ bzw. „Justice Democrats“ bekennt, da Maryland fest in der Hand der Demokraten ist und seinem republikanischen Gegner kaum eine Chance eingeräumt wird. Und die nächste progressive Kandidatin ist auch bereits auf dem Weg. Cynthia Nixon, die einst in der Serie „Sex and the City“ spielte, mit einer Frau verheiratet ist und einen Sohn hat, der sich jüngst als transsexuell geoutet hat, kandidiert für den Gouverneursposten von New York State. Derzeit liegt sie zwar noch sehr deutlich hinter dem Amtsinhaber Andrew Cuomo – der sich seit Nixons Ankündigung zu kandidieren deutlich nach links bewegt hat, um ihr die Stimmen zu entziehen.

Alexandria Ocasio-Cortez hat das Establishment erschüttert. Mit klaren progressiven politischen Leitgedanken und aus einer Graswurzelbewegung geboren, kann sie mit Hilfe von bereits progressiven Kongressabgeordneten wie Ro Khanna, Bernie Sanders, Elizabeth Warren und Tulsi Gabbard den Umbau der Demokratischen Partei beginnen. Und das ist zu Zeiten einer politischen Massenkarambolage namens Donald Trump ein lang ersehnter Silberstreif am Horizont für die momentan nur auf dem Papier Vereinigten Staaten von Amerika.

Anhang: Das Wahlprogramm von Alexandria Ocasio-Cortez

- Medicare for All
- Universal Job Guarantee
- Fully Funded Public Schools and Universities
- Paid Family & Sick Leave
- Housing as a Human Right
- Justice System Reform
- Immigration Justice
- Infrastructure Overhaul
- Clean Campaign Finance
- An Economy of Peace

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Geschrieben von

Ernstchen

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