Offener Brief an die Evolution

Fortschritt? Ein Text aus meiner Schublade, den ich für den richtigen Moment aufheben wollte. Aber jeder Moment ist der richtige Moment.

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Ihre Freitag-Redaktion

Sehr geehrte/r Evolution,

mit Sorge betrachten wir seit einiger Zeit die andauernde Gemächlichkeit in der Sie fortschreiten. Aus Perspektive unserer Welt der Beschleunigung möchten wir im Bereich der Evolution - gerade des menschlichen Körpers - sogar eine alarmierende Stagnation diagnostizieren, die mit gefährlicher Nachlässigkeit die Zukunft des Fortschritts zu sabotieren droht. Wir möchten Ihnen jedoch natürlich keine Vorsätzlichkeit unterstellen, haben wir doch Verständnis dafür, dass ein so altes Modell wie das der Weiterentwicklung des menschlichen Körpers mit der Zeit eben Staub angesetzt hat. Darum ist es unser besonderes Anliegen, Ihnen neue Impulse zu geben, geschöpft aus unseren mannigfaltigen Erfahrungen in den Schlüsselthematiken der Zukunft: Wachstum, Fortschritt und Effizienzoptimierung.

Bei der ersten dieser dreifaltigen Begrifflichkeiten haben Sie sich bereits ein wenig abgearbeitet, leider zu katastrophal kontraproduktiven Resultaten: Ja, die Menschen werden größer und älter, doch das erste kann in naher Zukunft zu Platzproblemen führen und ist außerdem völlig unnötig, und das zweite führt bereits jetzt zu einer Demografie, die dem Fortschritt zugunsten sogenannter Generationensolidarität im Wege steht. Das Wachstum eines Unternehmens ergibt sich ja auch nicht aus explodierenden Mitarbeiterzahlen oder expandierenden Firmengeländeflächen, sondern aus dem Endresultat: Der Steigerung der Einnahmen. Diese kann besonders begünstigt werden durch gleichzeitige Senkung der Ausgaben, also durch Reduktion der Beschäftigten. Dieses System nennt man Effizienzoptimierung und das Wachstum lässt sich nur unter dem unverzichtbaren Aspekt der Effizienzoptimierung fortschrittlich gestalten. Alles andere Wachstum ist Resourcenverschwendung.

Wie also kann beim menschlichen Körper eine Effizienzoptimierung aussehen? Nun, einige Redundanzen liegen natürlich auf der Hand, über die nicht groß gesprochen werden muss (Blinddarm, Fußzehen, zwei Lungenflügel, zwei Brüste bei Frauen, Brustwarzen beim Mann an sich etc.). Andere ergeben sich beinahe ebenso offensichtlich, wenn man nur einmal sparsam denkt und dabei die weit schneller vorangehenden Fortschritte in der Technologie mit einbezieht: Im Zeitalter des Internets und des global vernetzten digitalen Wissens ist die Kapazität des menschlichen Gehirns von eklatanter verschwenderischer Dimension. Da ohnehin vermutlich nicht mehr als 10% des organischen Datenträgers wirklich genutzt werden, ließe sich dessen Größe bereits im Lichte des gesunden Menschenverstands massiv reduzieren. Die übermäßige Wissensanhäufung und -speicherung ist im Zeitalter von Smartphones, Google, Wikipedia und GPS auch nicht mehr nötig und ließe Spielraum für weitere Einsparungen. Selbst die luxuriöse Ausstattung mit 3D-Blick (durch ein zweites Auge) ist heutzutage - trotz aktuellem aber sicher kurzlebigem Booms der 3D-Film- und -Spieleindustrie - nicht mehr zeitgemäß, kann doch das Navi, die Einparkautomatik in Autos und dergleichen den Organismus von der Entfernungswahrnehmungs- und -einschätzungspflicht befreien. Ein Auge genügt demnach völlig. Das gleiche wird auch in naher Zukunft für die räumliche Klangwahrnehmung gelten, insofern darf als mittelfristiges Folgeziel auch die Kürzung der Hörorgane auf ein Ohr ins (eine!) Auge genommen werden.

Die Doppelung der Extremitäten (Beine, Arme) wird sich in nahester Zukunft noch nicht vermeiden lassen, wobei eine Einsparung auf einen Arm vermutlich der erste logische Schritt sein wird. Digitale Medien, Roboter und andere technologische Hilfsmittel werden uns die meiste physische Arbeit in Zukunft immer mehr abnehmen, somit ist ein zweiter Arm wohl bald nur noch aus Gleichgewichtsgründen sinnvoll. Bei den Fingern ist bereits jetzt Handlungsbedarf. Dass der Mensch immernoch mit ganzen zehn Fingern ausgestattet ist, ist ein perfektes Beispiel für Überkapazität. Gut, wir müssen eingestehen, dass die Entwicklung von Touchscreens und besonders der Sprachsteuerung langsamer verlaufen ist als wir ursprünglich erwartet haben, aber der Fortschritt auch dieser Technologien lässt sich nicht aufhalten und wird uns bald eine Reduktion der Handfunktionalität auf Greifen und Berühren ermöglichen, was mit einem Daumen und maximal zwei zusätzlichen Fingern zu bewerkstelligen ist. "Schreibmaschinentippen" ist bereits jetzt ein furchtbar altmodischer Begriff und durch Eingabehilfen und Smartphone-Touchscreen-Technologie ist schon heute das Tippen von Texten mit einem oder zwei Fingern völlig ausreichend und wird im Zuge der erfolgreichen Optimierung der Sprachsteuerung womöglich bald völlig wegfallen.

Wir erwarten natürlich an dieser Stelle empörten Einspruch aus einem Randbereich der menschlichen Existenz, dem wir aber großzügig weiter ein wenig Raum lassen möchten: Der Kultur. Wie soll ein Pianist mit nur vier Fingern und zwei Daumen und später vielleicht nur einer Hand denn noch Beethoven spielen können? Wir sehen in dieser Frage ganz klar Symptome des Eingerostetseins und der Verweigerung des Transferdenkens. Nun, wir schlagen zwei Möglichkeiten vor: Einerseits ist es schon lange an der Zeit, traditionelle althergebrachte Schemata der Kultur der Vergangenheit angehören zu lassen uns sich mit neuen Gegebenheiten zu neuen Formen inspirieren zu lassen. Gleichzeitig ließe sich das Instrument jedoch auch auf mehrere "Spieler" aufteilen. Diese Vorgehensweise wird bereits erfolgreich im Job- und Car-Sharing angewandt.

Uns ist natürlich bewusst, dass es sich bei diesem Katalog der Optimierungsvorschläge um eine recht umfangreiche Restrukturierungsmaßnahme handelt, die selbstverständlich nicht von heute auf morgen zu bewerkstelligen ist. Dafür haben wir natürlich Verständnis. Und nicht nur das: Wir bieten Ihnen unsere konstruktive Mitarbeit zur Umsetzung der Prozesse an: Unsere besten Gentechniker haben das menschliche Genom bereits entschlüsselt und sind bereit, nun aktiv in Ihre evolutionäre Arbeit einzusteigen um eine progressive Weiterentwicklung in allen Bereichen zu beschleunigen. Wir sind auch bereit, noch ein wenig auf Sie zu warten, damit Sie die Möglichkeit bekommen, den ersten Schritt in die von Ihnen leider bisher verschleppte Zukunft zu tun. Ihnen sollte jedoch bewusst sein, dass wir auch jederzeit eigenständig eingreifen können und das auch werden, sollte von Ihnen kein Zeichen der Kooperation zu erkennen sein.

Wir danken für Ihre Aufmerksamkeit und wünschen Ihnen nun Mut, den Blick für Ihre schwindende Relevanz nicht zu verlieren und auf den Zug des effizienzoptimierten Fortschritts aufzusteigen, bevor es zu spät ist.

Mit freundlichen Grüßen

ERNSTchen Unternehmensberatung

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Ernstchen

Wortbürger. Musikmann. Mitmensch.

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