Offener Brief an die Menschen im Nahen Osten

Terror in Paris Seit den Anschlägen in Paris verschärft sich wieder der Ton und das Tun des Westens gegenüber dem Nahen Osten. Nein! Die Geschichte soll sich nicht ewig wiederholen!

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Liebe Menschen im Nahen Osten,

liebe Menschen im arabischen Raum, liebe Menschen in dem Teil der Welt den wir* einst bewundernd und dann irgendwann abfällig den „Orient“ nannten, liebe Menschen im Iran, Irak, Syrien, Libanon, Jordanien, Jemen, Palästina, Ägypten, Algerien, Libyen, Tunesien, liebe Menschen in Afghanistan und Pakistan und überall dort wo Muslime sich zuhause fühlen. Ihr erlebt eine schwere Zeit. Eure Region ist seit Jahrzehnten instabil, ihr werdet beherrscht von Diktatoren, religiösen Führern, Oligarchen. Und ihr werdet bombardiert. Nicht nur mit tatsächlichen Bomben, sondern auch mit einer invasiven, aggressiven Kultur. Der des sogenannten Westens. Schon vor etwa tausend Jahren überzogen wir euren Teil der Welt mit den Kreuzzügen. Wir wollten, wie fast in allen anderen Landstrichen der Erde, eine fremde Kultur zerstören und der dortigen Bevölkerung unsere aufzwingen. Und wenn sie nicht wollte, mordeten wir, gnadenlos.

Was in den ersten drei Jahrhunderten des zweiten Jahrtausends nach der angeblichen Lebensgeschichte der Messiasfigur unserer vorherrschenden Religionsgemeinschaften geschah, war barbarisch und menschenverachtend. Einige Zeit später brachten wir diese Praktiken auf die Spitze mit dem Kolonialismus, der Eroberung Amerikas, der Sklaverei und dem grundsätzlichen faschistoiden Gedanken, unsere „technologisch überlegene“ Zivilisation wäre die Blaupause für den Planeten. Die Welt sollte so werden wie wir. Das war keine rein ideologische Sicht der Dinge, es war mindestens im gleichen Maße eine wirtschaftliche: Was es auszubeuten gab, sollte ausgebeutet werden.

Als wir die Nützlichkeit des Erdöls entdeckten, das uns seit jeher den Treibstoff für unsere Fortbewegungsmittel und den Grundbaustein unserer zweifelhaften Errungenschaft Plastik dient, wurde eure Region für uns erneut interessant. Wir gingen sachter vor als zur Zeit der Kreuzzüge, wir hatten Respekt vor dem „Orient“, wir lasen unseren Kindern Geschichten aus 1001 Nacht vor, wir fuhren mit dem Orient-Express, wir liebten eure Teppichwebkunst, ja wir spielten sogar noch in den 1980er Jahren ein Computerspiel namens „Prince of Persia“.

Und doch hatten wir uns zu diesem Zeitpunkt schon fest eingenistet in eurer Welt. Wir spielten Schach mit euren Führungspersönlichkeiten, mit dem Schah von Persien, mit dem Ayatollah Khomeini, wir bildeten Osama bin Laden aus als Kämpfer gegen die Russen im Kalten Krieg, wir stachelten Saddam Hussein an, den Iran zu überfallen, wir ließen die Puppen tanzen. Wir ließen unsere Kultur langsam in eure Welt sickern, in eine Welt, deren Werte und Traditionen viel stärker religiös geprägt waren als die unserer postaufklärerischen Sekulärgesellschaft. Wir brachten euch McDonald's, Hollywood, Nestlé, Starbucks und irgendwann das Internet. Wir zeigten euch unsere Frauen, unverhüllt, in sexy Posen, nackt im Playboy und auf den Pornoseiten des World Wide Web. Unsere gefühlte moralische Überlegenheit gab uns den Antrieb, gab uns das Gefühl der Rechtschaffenheit in unserem Tun.

Und dann, immer wieder, kamen wir mit Flugzeugträgern, Panzern und Bomben und zerstörten eure Welt. Wir waren nicht einverstanden mit der Art und Weise wie manche eurer Machthaber die Dinge angingen und wir wollten unseren gefühlten Anspruch auf eure Bodenschätze geltend machen. Ein einigermaßen stabiler Naher Osten war uns ein zu starker Verhandlungspartner. Wir trugen das Schild unserer eigenen Wertefabrikationen „Menschenrechte“ und „Völkerrecht“ vor uns her und straften euch ab, dafür dass ihr nicht so wart und seid wie wir. Wir brachen dabei eben genau diese so ehrbaren Konzepte permanent und schamlos.

Irgendwann hatten manche von euch genug, und sie zogen Konsequenzen aus unserer permanenten Einmischung. Sie radikalisierten sich, hissten das Banner des Jihad und begannen, zurück zu schlagen. Sie verübten barbarische Akte der Grausamkeit und der Menschenverachtung. Sie lenkten Flugzeuge in die Symbole unseres Wirtschaftsimperialismus und zündeten Bomben in den Symbolen unserer „Kultur der Freiheit“. Sie nutzten die missliche Lage ihrer Heimatländer, deren Grenzen großteils von uns recht willkürlich in den Globus gefräst worden waren, um Chaos zu verbreiten, um sich abzureagieren gegenüber ihren „Feinden“ vor Ort, und ihren Feinden im Westen. Es war ihnen egal, ob Frau oder Kind, ob Schiit oder Christ, sie versammelten sich unter einem Banner, das sie glaubten ihrer Religion entnommen zu haben um Andersdenkenden den Garaus zu machen, Andersdenkenden den Krieg zu erklären. Al Kaida, Hisbollah, Boko Haram, IS … sie haben viele Namen. Was sie vereint, ist ein glühender Hass darauf was aus ihrer eigenen Welt geworden ist. Wenn sie Andersgläubige, Homosexuelle und sonstwie nicht in ihr enges Weltbild passende Menschen von Hochhäusern in den Tod schubsen, glauben sie dass Allah es so wollen würde, dass ihr Prophet Mohammed es so wollen würde. Sie glauben es, weil man es ihnen sagt. Die Drahtzieher dieser Gruppen nutzen die Frustration und auch die Frömmigkeit ihrer Gotteskrieger dazu, diesen zu befehlen sich in die Luft zu sprengen. Für Allah. Unschuldige Barbesucher, Konzertgänger, Fußballfans zu erschießen bevor sie sich selbst in ein Jenseits verabschieden, von dem sie großes gehört haben, von dem sie sich viel versprechen, nach dem sie sich sehnen. Denn ihre irdische Welt ist eine ebenerdige, staubige Hölle geworden, zerfressen von Hunger, Hass und Bomben. Erklären kann all das viel von dem was der IS tut, was Al Kaida und Boko Haram tun. Rechtfertigen tut es das nicht.

Und doch ist es an der Zeit, dass „der Westen“ (eine abstrakte Größe, die man vermutlich besser von außen als Einheit sehen kann) sich ein Herz nimmt und eingesteht: Wir haben euch Jahrhunderte lang schlecht behandelt. Wir haben euch Mord und Totschlag gebracht, wir haben eure Kultur beschimpft, wir haben euch unsere Blaupause vom Richtigen Leben unter die Nase gerieben bis einige von euch geplatzt sind. Und wir haben es ohne jegliche Scham und Reflexion getan. Wir sind immer weiter vorgedrungen in eure Welt, eure Kultur, euer Zuhause. Aus dem Selbstverständnis heraus, dass wir stets die moralische Oberhand behielten.

Und nun fordern wir von euch, dass ihr euch immer brav distanziert von den Radikalen unter euch, die unserer westlichen Grausamkeit eine uns weit barbarischer vorkommende Grausamkeit entgegenstellt. Wir sollten uns entschuldigen bei euch. Nicht beim IS, nicht bei Boko Haram, nicht bei Al Kaida, bei euch, den Menschen im Nahen Osten. Dafür dass wir stets das Falsche getan haben im Umgang mit euch. Wir sollten uns entschuldigen und euch helfen, aber nur wenn ihr unsere Hilfe annehmt. Und unsere Hilfe sollte nicht aus Bombern und Panzern bestehen, sondern aus Respekt, Verständnis, Unterstützung abseits wirtschaftlicher und geopolitischer Interessen. Die Menschlichkeit, die wir uns selbst immer etwas selbstverliebt attestieren, sollten wir ernstnehmen. Ihr seid alle Menschen wie du und ich. Und bei euch gibt es Radikale, Gewalttätige, Hasserfüllte, genauso wie bei uns. Unsere verrichten ihr tödliches Handwerk per Bomber, per Drohnenexekution oder per Wirtschaftssanktion. Eure tun ihres durch Selbstmordattentate und (vorgeschoben) religiösem Eifer. Die allermeisten von euch wollten uns nicht alle umbringen. Und die allermeisten von uns wollen euch nicht bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag bombardieren. Wir müssen irgendwie zusammenleben auf diesem immer enger zusammenrückenden Stück Fels im Weltraum. Wir werden es nicht schaffen, wenn wir uns weiterhin hassen und bekriegen. Wir werden es schaffen wenn wir einander kennenlernen, ohne Dogma, ohne Berührungsängste, ohne Drohungen. Millionen von euch fliehen gerade aus eurer Heimat in unsere Welt. Und ein paar einzelne verüben abscheuliche Greueltaten. Wir sollten einander in die Augen schauen und uns die Hände schütteln und sagen: Es lebe das Leben! Egal wie es im Detail aussieht.

Peace!

* Mir ist bewusst dass ich hier recht unzulässig permanent das "wir" verwende als ein Boot, in dem wir im Westen alle sitzen. Ich bitte, mir das zu verzeihen.

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Geschrieben von

Ernstchen

Wortbürger. Musikmann. Mitmensch.

Ernstchen

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