"Sense8" - ein tele-empathisches Kaleidoskop

Neue US-Serie Matrix-Macher Andy und Lana Wachowski, sowie Babylon-5-Schöpfer J. Michael Straczynski haben auf Netflix eine faszinierende neue TV-Serie erschaffen

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Wir erleben derzeit eine Art goldenes Zeitalter der US-amerikanischen TV-Serien. Anfang der 90er warfen David Lynchs bahnbrechenden zwei Staffeln „Twin Peaks“ bereits ihre Schatten voraus, doch der eigentliche Beginn der neuen Zeitrechnung waren „The Sopranos“ von David Chase (1999) und Alan Balls „Six Feet Under“ (2001). Es folgten „The Wire“, „Dexter“, „Lost“, „Mad Men“, „Heroes“, „24“, „Breaking Bad“, „True Detective“, „House of Cards“ und viele mehr, darunter auch weniger bekannte Juwele wie die kurzlebige Märchenromanze „Pushing Daisies“ oder das sensationelle Science-Fiction-Remake „Battlestar Galactica“. Zuletzt krönte sich das wahrscheinlich aufwändigste TV-Projekt aller Zeiten, „Game Of Thrones“, zur Königin der seriellen TV-Unterhaltung. Was all diese Serien von ihren Vorgängern in den 70er- bis 90er-Jahren unterscheidet, sind nicht nur die teils immens höheren Produktionskosten, die durch Bezahlsender wie HBO, Showtime oder Netflix ermöglicht wurden, oder die Beteiligung von Hollywoodstars, die für solch große Konzepte wie „Homeland“ oder „True Detective“ den Sprung auf den „kleinen Bildschirm“ wagten. Diese neuen Serien taten etwas, das die meisten Serien zuvor – abgesehen von Daily Soaps und Telenovelas – nur selten wagten: Einen großen narrativen Bogen, der sich durch die ganze Serie zog, anstatt in sich abgeschlossener Einzelepisoden. Zwar gab es schon in „Dallas“, „Babylon 5“, „Buffy the Vampire Slayer“ oder „The X-Files“ Tendenzen in diese Richtung, doch erst in den Serien des neuen Jahrtausends wurde die große Geschichte der Fokus der Erzählung und die kleine, wöchentliche Geschichte wanderte in den Hintergrund.

Die „alte“ Art und Weise, TV-Serien zu erzählen, bleibt durchaus erhalten. Sitcoms wie „The Big Bang Theory“ oder „How I Met Your Mother“, Krimiserien wie „CSI“, „Bones“ oder „Castle“, sowie manche der zahllosen Superhelden-Serien konzentrieren sich weiterhin auf die Pointe der Woche, den Mordfall der Woche, den Bösewicht der Woche. Doch die high concept shows treten immer mehr ins Zentrum des medialen Interesses.

Nun haben sich auch die Wachowskis („The Matrix“, „Cloud Atlas“), mit Unterstützung von „Babylon 5“-Schöpfer J. Michael Straczynski, dem Format Fernsehen angenommen und mit „Sense8“ (Netflix) eine der wohl ungewöhnlichsten Fernsehserien der TV-Geschichte ins Leben gerufen. Acht Personen in acht Städten auf der ganzen Welt verteilt (Chicago, San Francisco, Mumbai, Berlin, Nairobi, Seoul, London/Reykjavik, Mexico City) merken plötzlich, dass sie auf irgendeine Weise miteinander verbunden sind. Sie können teils schmecken was der andere gerade trinkt, hören welche Musik die andere gerade auflegt, sie werden traurig wenn einer der anderen traurig ist. Diese Personen beginnen, sich in einer Art Visionen zu begegnen, ausgelöst von einer gemeinsamen Vision zu Beginn der Serie, von einer blonden Frau (Daryl Hannah), die sich aus Angst vor einem älteren Mann, der sie gefangen nehmen will, das Leben nimmt. Ein weiterer Mann, der in dieser Vision auftaucht (Naveen Andrews, Sayid aus „Lost“), präsentiert sich einigen dieser „Sensates“ als eine Art Begleiter, als derjenige, der ihnen langsam aber sicher klarmacht, auf welche Weise sie miteinander verbunden sind, und was sie mit dieser Verbindung anfangen können: Die acht Sensates können die Fähigkeiten der anderen anzapfen und für sich nutzen. Auf diese Art und Weise befreien sich der junge kenianische Busfahrer Capheus (Aml Ameen), sowie auch die isländische DJane Riley (Tuppence Middleton) und die transsexuelle Hackerin Nomi (Jamie Clayton) aus misslichen Lagen. Die weiteren fünf Akteure sind Kala (Tina Desai), eine junge indische Frau, die an den falschen Mann verheiratet werden soll, Wolfgang (Max Riemelt), ein Safeknacker in Berlin, Will (Brian J. Smith), ein Cop in Chicago, Lito (Miguel Ángel Silvestre), ein mexikanischer Action-Filmstar, der aus Angst vor dem Verlust seiner Karriere sein Coming-Out unterdrückt und Sun (Doona Bae), Tochter eines einflussreichen Bankers in Seoul.

Als das wirkt sowohl nacherzählt als auch in der Pilotfolge präsentiert erst einmal fürchterlich konfus. Man muss den Machern der Serie allerdings zugestehen, dass sie sich eine fast unmögliche Aufgabe erteilt haben: Innerhalb einer Stunde acht Hauptfiguren, ihre Umgebung, ihre Freunde, ihre Vorgeschichte einzuführen und noch dazu einen Hinweis darauf was mit ihnen geschieht mitzuliefern. Die Wachowskis und Straczynski greifen dann auch in der Pilotfolge stark auf Klischees und Stereotypen zurück um die Charaktere eindeutig vorzudefinieren, so dass der Zuschauer sich diese Menschen merken kann. Das ist aus erzählerischer Sicht durchaus frustrierend und erscheint billig, erfüllt jedoch erstaunlicherweise seinen Zweck. Die Schubladen in denen die acht Figuren zu Beginn eher grobschlächtig hineingesteckt werden, lösen sich in den folgenden Episoden schnell auf und die Sensates bekommen ihre ganz eigenen Persönlichkeiten, so dass die ersten Crossovers sofort funktionieren und man einen genaueren Einblick in diese acht, sehr sehr verschiedenen Menschen bekommt.

Abgesehen von der etwas holprigen Einführung in Episode 1 lassen sich die Showrunner Zeit. Was da wirklich passiert, warum diese acht miteinander verbunden sind, was das für Potential – sowohl positiv als auch negativ – hat, und wer ihnen weswegen an den Kragen will, ist lange überhaupt nicht klar. Die Sensates gewöhnen sich eher mit der Zeit an ihre neue Gabe, die sowohl Fluch als auch Segen ist, da die Begegnungen/Visionen nicht zwingend immer in den passendsten Momenten passieren. Doch wenn sie in genau den richtigen Momenten passieren, gibt es großartige Sequenzen, die in dieser Form seinesgleichen suchen, da sie zeitgleich auf verschiedenen Kontinenten in völlig unterschiedlichen Umgebungen stattfinden. Visuell ist das meisterlich gelöst, gerade im Schnitt werden wahre Heldentaten vollbracht, das Filmmaterial aus verschiedenen Kontinenten, von verschiedenen Regisseuren gedreht, flüssig und schlüssig zu kombinieren. Während die Schauspieler oft hin und her reisen müssen um ihre Crossover-Szenen zu drehen, bleiben die Regisseure nämlich vor Ort. San Francisco, Chicago, London und Reykjavik wurde von den Wachowskis gedreht, Berlin und Nairobi von Tom Tykwer (der auch für die Musik verantwortlich ist), Mumbai und Mexico City von James McTeigue und Seoul von Dan Glass, alle Szenen wurden on location gedreht. Zunächst ist es hauptsächlich faszinierend, diese weltumspannende Produktion zu beobachten, doch schnell werden auch Plot und Figuren so ansteckend und einnehmend, dass sich das berüchtigte binge watching (Netflix veröffentlich stets die gesamte Staffel auf einmal) nicht vermeiden lässt.

Eine faszinierende Serie voller großartiger Schauspieler und Kulissen, die einen nicht mehr loslässt wenn man den doch ziemlich holprigen Einstieg übersteht und bereit ist, weiter zu schauen. Ob „Sense8“ eine zweite Staffel bekommen wird, ist noch nicht klar. Die Komplexität und die schiere Riesenhaftigkeit des narrativen Bogens machen diese Serie nicht zu einem klaren Anwärter für gigantische Zuschauerzahlen. Dennoch hoffe ich, Netflix gibt Straczynski und den Wachowskis die Chance, dieses riesige Puzzle weiterzustricken, ein zutiefst menschliches und hochgradig progressives Puzzle in dem Transsexualität und schwule Sexszenen genauso selbstverständlich gezeigt und thematisiert werden wie traditionelle indische Hochzeitsrituale, afrikanische Drogenkartells und klassisches Cop-Drama. „Sense8“ ist meine Serienempfehlung des Jahres 2015!

"Sense8" (2015)

Created and written by Andy Wachowski, Lana Wachowski & J. Michael Straczinski
Directed by the Wachowskis, Tom Tykwer, James McTeigue and Dan Glass
Starring: Aml Ameen, Doona Bae, Jamie Clayton, Tina Desai, Tuppence Middleton, Max Riemelt, Miguel Ángel Silvestre, Brian J. Smith, with Naveen Andrews and Daryl Hannah

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Geschrieben von

Ernstchen

Wortbürger. Musikmann. Mitmensch.

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